Das Geheimnis des letzten Moa: Neuseelandsaga (German Edition)
verraten, doch in diesem Augenblick ging eine völlige Veränderung in Deborahs Gesicht vonstatten. Ihre eben noch klaren Züge wichen einer angsterfüllten Miene. Sie suchte Moiras Blick. »Bitte, bring mich ins Bett, ich möchte schlafen.« Dann wandte sie sich Grace zu und starrte sie entgeistert an. »Moira, wer ist die Frau da? Du weißt doch, ich will keinen Besuch haben. Schick sie weg!«
»Es ist die junge Frau, die der Reverend geschickt hat«, versuchte Moira ihr mit sanfter Stimme zu erklären.
Deborah musterte Grace skeptisch. »Nein, ich möchte mich aber nicht mit ihr unterhalten. Ich bin so müde. Ich muss meinen Mittagsschlaf machen. Bringst du mich nach oben, Moira?«
»Gleich, Deborah. Ich begleite die junge Dame nur noch zur Tür.«
»Das ist nicht nötig, Moira«, erwiderte Grace hastig und gab Deborah zum Abschied die Hand. Ihre Mutter hielt sie länger fest als nötig. »Wissen Sie, dass Sie ganz besondere Augen haben?« Grace nickte schwach.
Dann verließ sie eilig das Zimmer, in dem ihre Mutter wieder ungestört dem Land der Vergessenheit entgegendämmern durfte.
»Ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen«, bemerkte Moira leise, die ihr auf den Flur gefolgt war. »Wie heißen Sie eigentlich?«
»Grace.«
»Grace, ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll, dass Sie ihr nicht das Herz gebrochen haben. Und bitte, glauben Sie mir, ich habe immer nur ihr Bestes gewollt. Die ersten Jahre, nachdem sie aus dem Gefängnis kam, hat sie sich so entsetzlich gequält. Sie war krank vor Angst bei der Vorstellung, ihre Tochter, also Sie, Grace, Sie könnten irgendwann erfahren, was sie getan hat. Ethan hatte ihr damals versprechen müssen, nie wieder nach Neuseeland zu kommen und alle Kontakte abzubrechen. Dann hatte sie immer häufiger diese Aussetzer, und sie wusste schließlich gar nicht mehr, was wirklich geschehen war. Sie redete sich ein, sie habe eine glückliche Ehe geführt. Ich habe sie darin bestärkt, und sie hat immer mehr die Identität von Alma angenommen. Ein Name, den sie sich nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis selbst gegeben hat. Damit sie keiner aufspürt, denn dieser Fall hat, wie Sie sich sicher denken können, einen großen Medienwirbel verursacht. Alle wollten ein Interview mit der entlassenen Mörderin, doch die Gefängnisleitung hat ihr geholfen, bei Nacht und Nebel zu verschwinden. Und dann sind wir hier am Ende der Welt gemeinsam untergetaucht.«
»Und was hat Sie dazu gebracht, Ihr eigenes Leben für meine Mutter aufzugeben?«
»Ich gehörte damals zu einer Gruppe, in der wir weiblichen Strafgefangenen geholfen haben, und so geriet ich an Debbie. Für mich war es Liebe auf den ersten Blick. Sie hat mich zeitlebens nur als gute Freundin akzeptiert, aber das war mir letztlich gleichgültig. Sie kam mir vor wie ein aus dem Nest gefallener Vogel, und ich musste einfach bei ihr bleiben, um sie zu beschützen.«
»Ich bin froh, dass es Sie gibt, Moira, aber vielleicht könnten Sie das Geheimnis meiner Mutter jetzt wenigstens Ihrer Schwester gegenüber lüften. Ich glaube, sie würde sich über ein Wiedersehen mit Ihnen freuen. Vielleicht wird sie ihre Freude nicht gleich zeigen, aber ich bin sicher, dass sie Sie sogar verstehen würde, wenn Sie ihr alles erklären.«
»Grace, Sie sind eine kluge junge Frau, aber was werden Sie nun tun? Werden Sie hierbleiben im Land ihrer Vorfahren?«
»Nein, ich muss fort, aber hätten Sie etwas dagegen, wenn ich ab und an bei Ihnen anriefe, um mich nach dem Befinden meiner Mutter zu erkundigen?«
»Aber natürlich nicht«, entgegnete Moira bereitwillig, kritzelte ihre Telefonnummer auf einen Zettel und reichte ihn ihr.
»Und können Sie mir noch einen kleinen Gefallen tun?«
»Alles, was Sie wünschen.«
»Ich habe draußen vor der Tür einen Mietwagen stehen und bitte Sie, ihn für mich in Invercargill abzugeben. Ich glaube, ich bin im Augenblick nicht in der Lage, mich hinter ein Steuer zu setzen.«
»Aber wie wollen Sie sonst von hier fortkommen? Hier ist das Ende der Welt.«
»Jemand wartet auf mich.«
»Der Mann, den sie lieben?«
Grace' Gesicht verfinsterte sich. »Leider nicht.«
Die beiden Frauen zögerten kurz, doch dann fielen sie sich in die Arme.
Als Grace Minuten später Suzan draußen im strömenden Regen stehen sah, wurde ihr warm ums Herz.
»Bring mich zu meinem Vater«, sagte sie leise und griff die Hand ihrer Tante.
Die sah sie fragend an.
»Keine Sorge, sie weiß nicht, dass ich ihre Tochter bin.
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