Das Geheimnis des letzten Moa: Neuseelandsaga (German Edition)
geschrieben, dass ihm überdies sein Lebensraum, der Wald, immer weiter genommen wurde.«
Grace lauschte den Ausführungen der Professorin mit glühenden Wangen und stimmte ihr eifrig zu.
»Genau, es wurde ja lange fälschlich vermutet, dass der Moa kein Vogel des Waldes war, bis man herausfand, dass Neuseeland bis in das zwölfte Jahrhundert hinein vollständig bewaldet war und dass die Ureinwohner viel Baumbestand durch Brände zerstört haben. Und da es nur Wälder gegeben hat, müssen die Moas dort sehr wohl gelebt haben. Ich teile Ihre Ansicht, dass diese beiden Faktoren ursächlich waren für das verhältnismäßig schnelle Aussterben des Moa, wenn man bedenkt, dass die ersten Fossilienfunde aus dem Pliozän stammen. Stellen Sie sich das mal vor: Vor zweieinhalb Millionen Jahren hat es diese Tiere noch gegeben, und dann sind sie binnen eines Augenblinzelns der Geschichte einfach verschwunden, kaum dass Menschen auftauchten.«
»Meine Großmutter hat noch fest daran geglaubt, dass die Moa-Jäger schuld an dem Sterben der flugunfähigen Riesenvögel waren.«
»Ja, eine recht abenteuerliche Theorie Julius von Haasts, die sogar noch heute ihre Anhänger hat, obwohl es keinerlei Beweise dafür gibt, dass vor den Maori ein anderes Volk in Neuseeland gelebt hat, außer den Moriori vielleicht. Aber ich habe meine Zweifel, ob die Moriori wirklich die ersten polynesischen Einwanderer auf den Hauptinseln gewesen und von den Maori auf die Chathams vertrieben worden sind. Ich glaube eher, die sind von Anfang an gleich auf die Chathams gekommen und haben ausschließlich dort gelebt«, erwiderte Grace enthusiastisch, bevor sie zur nächsten Vitrine schlenderte. Dort war ein Schriftstück aufbewahrt, in dem der Ursprung des Namens »Moa« anhand eines Mythos der Maori aus Waiapu erklärt wurde.
»Das wusste ich nicht.« Sie lachte, nachdem sie die Geschichte zu Ende gelesen hatte. »Eine riesige Henne mit dem Gesicht eines Menschen, die von zwei Riesenechsen bewacht wird und jeden Eindringling zu Tode trampelt, nennen sie Moa?«
»Ja, ein merkwürdiger Mythos, oder? Und eine große Ausnahme. Man behauptet doch immer, der Moa käme in der gesamten Mythologie der Maori nicht vor. Ich glaube zu wissen, warum. Der Moa wurde noch schneller ausgerottet, als wir heute vermuten. Daran forsche ich zurzeit. Ich glaube fest daran, dass die Moas nicht fünfhundert, sondern bereits hundert Jahre nach Auftauchen der Maori völlig vom Erdboden verschwunden waren. Und dass es deshalb bis auf diese Ausnahme keine Legenden über den Moa gibt. Weil es so lange her ist und so schnell ging.«
»Und was halten Sie von der Vulkantheorie?«, fragte Grace interessiert.
Die Professorin zuckte mit den Schultern. »Vulkanausbrüche und Meteoriteneinschläge als Erklärung für das Aussterben ganzer Tierarten halte ich für zu einfach.«
»Aber manchmal ist es eben so simpel. Denken Sie doch nur an die Bedrohung der Kiwis durch die Nagetiere.« Grace hielt inne und musste unwillkürlich an Hori denken. Wie er ihr mit Feuereifer von seiner Arbeit erzählt hatte. Wie gern würde sie ihn einmal auf so eine Insel begleiten, aber den faszinierenden Maori wiederzusehen bedeutete Komplikationen und emotionale Verwirrung. Vergiss es, redete sie sich gut zu. Und doch stellte sie sich mit einem Mal vor, sie würde Hori die Geschichte von der Riesenhenne erzählen. Sie würden darüber bestimmt gemeinsam herzlich lachen können.
Dann erblickte sie in einer Vitrine ein Riesenei. Am liebsten hätte sie es in die Hand genommen.
»Und das ist mein Lieblingsstück«, hörte Grace die Professorin nun wie von fern sagen. Grace wandte den Blick von dem Moa-Ei ab und folgte Suzan Almond zu einer Vitrine, die ein altmodisches Schreibheft enthielt. Mit einem Griff öffnete die Professorin den Deckel, nahm das Heft heraus und reichte es Grace. In fein geschwungenen Buchstaben stand vorn auf dem Einband geschrieben: Das Geheimnis des letzten Moa. Ein Märchen von Antonia Evans.
»Ein Märchen?«, fragte Grace erstaunt.
»Tja, das hat meine Mutter in Antonias Nachlass gefunden. Was meinen Sie, wie meine Mutter sich gewundert hat. Meine Großmutter soll eine kühle, sachliche Person gewesen sein, die sich ungern mit Emotionen auseinandersetzte. Sie hatte ihr Leben der Forschung verschrieben und nicht der Poesie oder gar der Liebe. Und diese Geschichte ist mit dem Herzen geschrieben.«
»Darf ich sie lesen?«
»Ja, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist«,
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