Das Geheimnis des letzten Moa: Neuseelandsaga (German Edition)
erwiderte die Professorin hastig und nahm Grace das Heft vorsichtig aus der Hand.
»Sie meinen, wenn Sie in Ihrer Erzählung bei Ihrer Großmutter angelangt sind? Gut, dann werde ich mich in Geduld üben. Und mein Kompliment: Ihre Taktik funktioniert hervorragend. Ich kann es nämlich schon jetzt kaum mehr erwarten, bis Sie mit Ihrer Geschichte fortfahren. Und vor allem freue ich mich auf Antonia. Eine wirklich faszinierende Person.«
»Und wer sagt Ihnen, dass Ihre eigenen Vorfahren nicht ebenso schillernd waren?«, fragte die Professorin listig.
»Misses Almond, hatten wir uns nicht darauf geeinigt, dass Sie mich mit meinen neuseeländischen Wurzeln verschonen?«, konterte Grace ärgerlich. Langsam ging ihr die Hartnäckigkeit der Professorin auf die Nerven.
»Suzan, nennen Sie mich einfach Suzan.« Suzan reichte Grace versöhnlich die Hand.
»Gut, Suzan, ich bin Grace. Und kein Wort mehr über meine Familie. Das Thema ist tabu. Versprochen?«
»Versprochen«, erwiderte Suzan prompt und mahnte sich innerlich zu mehr Vorsicht. Wenn ich mich nicht endlich in Geduld übe, gefährde ich damit womöglich meinen ganzen schönen Plan. Sie nahm sich fest vor, kein einziges Wort mehr über die neuseeländischen Wurzeln der jungen Frau zu verlieren.
Macandrew Bay, Oktober 1883
Selma stand am Fenster und zupfte immer wieder aufgeregt ihr neues Kleid zurecht. Damon hatte es ihr in Auckland gekauft und damit erstaunlicherweise genau ihren Geschmack getroffen. Es war schlicht geschnitten und ließ sie damen- und nicht mädchenhaft aussehen. Wie konnte er nur ahnen, dass mich jede überflüssige Verzierung jung und niedlich erscheinen lässt?, fragte sie sich zum wiederholten Male. Sogar die Farbe war wie für sie geschaffen. Ein helles Blau, das nicht gar so blass machte.
Sie waren gestern spät in der Nacht auf einem Berg unweit von Dunedin eingetroffen. Leider hatte es die ganze Fahrt vom Hafen bis nach oben auf den grünen Hügel in Strömen geregnet, sodass sie aus der Kutsche heraus wenig von ihrer neuen Heimat hatte erkennen können.
Dafür bot sich ihr heute aus dem Fenster ihres geräumigen Zimmers im oberen Stockwerk ein ungeahnter Blick über den Otago Harbour, der in der gleißenden Frühlingssonne glitzerte wie ein funkelnder Sternenhimmel. Darüber leuchtete ein stahlblauer Himmel, mit weißen Schönwetterwolken gesprenkelt. Und auf der anderen Seite des Wassers waren die Häuser auf den Hügeln der Stadt malerisch in ein warmes Sonnenlicht getaucht.
Bei dieser Aussicht fiel die Beklommenheit, die Selma in den letzten Tagen wie ein schwarzes schweres Tuch eingehüllt hatte, von ihr ab, und sie fühlte sich mit einem Mal leicht und beschwingt. So, wie es zu dem goldenen Funkeln und dem schimmernden Blau dort draußen passen wollte.
Das Schlimmste seit ihrer Flucht war die dumpfe Ahnung, er könnte sie doch eines Tages noch finden. Bedrohlich hatte sich das letzte Bild von Richard in ihr Gedächtnis eingebrannt. Wie er der Kutsche hinterhergerannt war; fluchend, hasserfüllt und bereit, Damon auf der Stelle zu töten. Wie er ihnen, nachdem ihm die Puste ausgegangen war, mit der Faust gedroht hatte. Selma hatte das alles genau beobachten können, denn sie waren mit einem offenen Wagen zum Schiff gefahren. Sie hatten sich bereits in Sicherheit gewähnt, da kam Richard hinter einer Häuserecke hervorgesprungen und hatte versucht, die Kutsche einzuholen.
Wieder zupfte Selma nervös an ihrem Kleid herum. Sie war wahnsinnig aufgeregt, denn Damon würde sie gleich abholen und Mama Maata vorführen.
Er sah es, so sagte er wörtlich, als Geschenk des Himmels an, dass seine Eltern noch in Christchurch bei einer Zusammenkunft neuseeländischer Architekten weilten.
»Sind sie denn wirklich so schlimm?«, hatte Selma ihn ängstlich gefragt.
Damon hatte einen tiefen Seufzer ausgestoßen. »Nicht schlimm, nur Vater ist schrecklich eitel und Mutter schrecklich eingebildet.«
Es klopfte an der Tür, und Selma verließ ihren Fensterplatz, um ihm aufzumachen. Vorsichtshalber hatte sie abgeschlossen, wenngleich sie sich sicher war, dass Damon niemals ungebeten in ihr Zimmer schleichen würde. Im Gegenteil, er war sehr zurückhaltend und hatte auf der ganzen Reise nicht einen einzigen Annäherungsversuch unternommen. Wahrscheinlich hilft er mir nur aus Mitleid und sieht in mir nichts anderes als eine vom Schicksal gebeutelte, mittellose Auswanderin vom Lande, mutmaßte sie.
Aber sein Blick sagte etwas völlig
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