Das Geheimnis des letzten Moa: Neuseelandsaga (German Edition)
treiben.
Als sie wenig später nach Misses Buchan sah, hoffte sie, dass sie eine Gelegenheit finden würde, ihr diesen Brief zu zeigen.
Sie hatte Glück. Misses Buchan war ausgesprochen munter an diesem Abend, sodass Selma nicht lange zögerte und ihr schließlich das Antwortschreiben des alten Wayne reichte.
»Man müsste ihnen sofort die Aufträge wegnehmen«, knurrte die alte Dame, nachdem sie es gelesen hatte.
»Ja, das machen wir, wenn Sie wieder gesund sind. Denn das ist jetzt die Hauptsache«, entgegnete Selma gequält.
»Nein, so lange können wir nicht warten, liebes Kind, denn ich werde nicht mehr gesund. Es ist nur eine Frage der Zeit, wie lange es noch dauert.«
»Sagen Sie doch nicht so etwas!«
»Einmal müssen wir darüber sprechen. Solange ich in der Lage bin, das zu tun. Und bitte, sag Amanda zu mir.«
Selma sah die alte Dame erschrocken an.
»Gern, Amanda, aber trotzdem, du schaffst das!«
»Ich will mich nicht mit dir streiten, aber jetzt unterlasse es auf der Stelle, mir zu widersprechen, und höre mir gut zu. Wie du weißt, habe ich keine Kinder und keinen, dem ich das hier alles vererben möchte. Gut, eine gewisse Summe vermache ich der Presbyterianischen Kirche, aber nur einen kleinen Teil. Ich möchte, dass Otahuna in gute Hände kommt. Und da fällt mir nur ein Mensch ein, den ich als meinen Nachfolger sehe. Du, mein Kind.«
»Ich, aber ich kann doch nicht ... ich meine, ich kann das nicht ...«, stammelte Selma.
»Was kannst du nicht?«
»Nimm zum Beispiel den Schlachthof. Ich kann kein Blut sehen.«
Amanda lachte glockenhell auf.
»Dann stelle einen anständigen, kräftigen Kerl ein, der den Teil der Arbeit übernimmt. Geld ist genügend vorhanden. Du kannst mehr Helfer beschäftigen, als ich sie jemals hatte. Du bestimmst in Zukunft, was hier geschieht. Du sollst meine Geschäfte weiterführen.«
»Ich kann doch kein Kontor leiten.«
»Du hast so viel gelernt in den letzten Monaten. Du kannst es! Ich habe bereits alles schriftlich festgelegt.« Sie richtete sich keuchend auf und griff in die Nachttischschublade, aus der sie ein paar Papiere hervorholte, die sie Selma reichte.
»Das ist mein Testament. Testamentsvollstrecker ist der junge Anwalt, Mister Frederik Koch aus Dunedin. Mit ihm zusammen habe ich es aufgesetzt. Er weiß Bescheid und wird auch der Kirche den entsprechenden Teil zukommen lassen. Und er wird dir bei allen Fragen, was die Verträge angeht, zur Verfügung stehen. Die Vereinbarungen mit den Waynes hat er bereits überprüft. Der Zeitpunkt ist günstig. Wenn wir ihnen jetzt kündigen, sind wir die Kerle bald los. Und deshalb habe ich das bereits in die Wege geleitet. Die Kündigung liegt bei Mister Koch.«
»Das ist ja großartig!«, entfuhr es Selma, und sie erschrak über ihre eigenen Worte. Wie konnte sie in dieser Lage nur an die Befriedigung ihrer Rachegelüste denken?
»Sie haben es nicht anders verdient«, bekräftigte Amanda im Brustton der Überzeugung, und sie fügte verschwörerisch hinzu: »Du weißt, ich bin ein frommer Mensch, aber dass die Bibel kein bisschen Platz für Rache lässt, ist dumm. Das kann nicht Gottes Wort sein. Oder glaubst du, der Arzt, der damals betrunken zu uns kam, als es meiner kleinen Margret so schlecht ging, hat sich seines Lebens erfreuen können, nachdem er unsere Tochter auf dem Gewissen hatte? Nein, fortgezogen aus Waikouaiti ist er; soll bald darauf ganz dem Suff verfallen sein. Er hatte keine Patienten mehr, denn ich habe nicht geruht, bis ...« Ein Hustenanfall unterbrach ihre feurige Rede. Sie keuchte und schnappte nach Luft, dass es Selma angst und bange wurde. Die Quälerei dauerte eine halbe Ewigkeit, und als Amanda erschöpft in ihre Kissen zurückfiel, war sie bleich wie der Tod.
Sie war nun zu schwach zum Sprechen, und Selma wachte an ihrem Bett, bis Amanda endlich eingeschlafen war. Als Selma auf ihr eigenes Lager fiel, war es bereits später Abend, und sie war zu erschöpft, noch zu Harata zu gehen und ihr Kind in die Arme zu nehmen. Dass dies fortan zur Gewohnheit werden sollte, ahnte Selma noch nicht, als sie voll bekleidet auf dem Bett einnickte.
Port Chalmers, Juni 1885
Selma hatte den Kragen ihres Mantels hochgeschlagen, aber auch das schützte sie nicht vor dem eisigen Wind, der ihr im Hafen von Port Chalmers entgegenpfiff. Genauso wenig, wie ihr Hut sie vor dem peitschenden Regen bewahrte, doch ihr machte das nicht viel aus. Sturm und Regen hatte sie bereits als Kind in Cornwall
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