Das Geheimnis des letzten Moa: Neuseelandsaga (German Edition)
geliebt. Sie hatte nie verstanden, warum die anderen so versessen nach dem Sommer waren. Sie mochte den Herbst und auch den Winter.
Allein das Salz, das sie auf ihrer Zunge spürte, gab ihr das befriedigende Gefühl, am Meer zu sein. Mit einem Seitenblick auf das Wasser stellte sie fest, dass es mächtig bewegt war. So bewegt, dass heute mit Sicherheit keine Schiffe mehr auslaufen würden.
Sie hatte sich mit ihrem Anwalt, Frederik Koch, in ihrem Kontor im Hafen verabredet. Der Gedanke, dass es jetzt ihr Kontor und ihr Anwalt waren, erschien ihr immer noch fremd.
Amanda war noch in derselben Nacht gestorben, nachdem sie mit ihr über das Testament gesprochen hatte. Am nächsten Morgen lag sie leblos in ihrem Bett. Sie hatte ausgesehen, als ob sie schliefe. Seitdem war Selma unentwegt auf den Beinen. Erst hatte sie sich um die Beerdigung gekümmert, dann musste sie gleich ins Geschäft einsteigen. Inzwischen hatte sie einen jungen Mann als ihre rechte Hand und eine von Haratas Schwestern als Haushaltshilfe eingestellt. Harata sollte sich nun ausschließlich um Antonia kümmern. Und die Suche nach einem neuen Partner für die zu charternden Schiffe hatte ihr großes Vergnügen bereitet. Die Wahl war auf den sympathischen Bernard Scott gefallen, den sie gleich noch treffen würde.
Selma blieb kurz stehen und beobachtete, wie eine hohe Welle gegen die Kaimauer klatschte. Die Gischt spritzte fast bis zu ihr herüber. Sie genoss es, als ein paar Tropfen des kalten Wassers ihre Wangen besprenkelten.
Als sie weiterging, kamen ihr zwei Männer entgegen, die sie aber erst erkannte, als sie sich ihr in den Weg stellten. Selma wunderte sich über sich selbst. Sie zitterte nicht, ihr Herz klopfte nicht schneller als zuvor, und sie verzog keine Miene. Sie empfand nichts. Nur Eiseskälte.
»Was machst du denn hier? Hat man dich denn nicht eingesperrt? Dann sollte man das schnellstens nachholen. Du hast nicht nur deinen Mann, sondern auch meinen Sohn auf dem Gewissen.« Adrian Wayne hob eine Hand, als wolle er sie schlagen, aber Charles hielt ihn fest. »Vater, mach dich nicht unglücklich. Das ist doch so eine wie die gar nicht wert.« An Selma gewandt fuhr er fort: »Na, hast du dir deine Freiheit auf demselben Wege erschlichen, wie du es geschafft hast, meinen Bruder zu verhexen?«
Er musterte sie mit einer Mischung aus Interesse und Ablehnung. Sie hielt seinem Blick stand. »Wären die Herren jetzt so freundlich, mir aus dem Weg zu gehen. Sonst wäre ich gezwungen, nach der Polizei zu rufen«, sagte sie mit kalter Stimme.
»Du willst mir drohen? Du? Pass bloß auf. Sonst schleife ich dich an den Haaren zur nächsten Polizeistation.«
»Sind Sie taub, Mister Wayne? Gehen Sie mir sofort aus dem Weg!« Sie versuchte, an Mister Wayne vorbeizukommen, aber der hielt sie am Ärmel fest.
Da trafen sich erneut Selmas und Charles' Blicke. Täuschte sie sich, oder sah sie Bewunderung und Begierde aus seinen Augen blitzen? Ihr wurde übel.
»Vater, ich glaube, es ist besser, wenn du mich das hier regeln lässt. Geh schon mal vor. Ich werde die junge Dame in ihre Schranken weisen.«
»Dame? Dass ich nicht lache. Aber gut, ich lass dich allein mit ihr.« Widerwillig ließ Mister Wayne ihren Ärmel los und eilte davon.
Selma wollte es ihm gleichtun, doch nun war es Charles, der sie festhielt.
»Freust du dich denn gar nicht, dass wir uns wiedersehen?«, fragte er mit schmeichelnder Stimme und näherte sich ihr bedrohlich.
Selma holte tief Luft. Sie würde kein einziges Wort mit diesem Mann wechseln.
»Du bist ja noch schöner geworden. Eine richtige Lady. Woher hast du so ein teures Kleid? Du bist doch nicht etwa unter die käuflichen Damen vom Hafen gegangen, oder? Doch selbst wenn, ich muss dich unbedingt wiedersehen, hörst du? Wir hätten es richtig schön haben können, aber du wolltest mir ja plötzlich ein erfundenes Kind unterschieben, nur um mich zu heiraten. Bei meinem lieben Bruder hast du es danach ja erfolgreich geschafft. Hast du ihm auch vorgelogen, dass du von ihm schwanger bist? Egal, du gefällst mir noch immer. Lass uns dort weitermachen, wo wir aufgehört haben. Dir hat es doch schließlich auch Spaß gemacht.«
Selma holte stumm aus, versetzte ihm mit voller Wucht eine Ohrfeige, riss sich los und rannte, bis sie die rettende Kontortür erreicht hatte. In ihrem Büro angekommen, fingen ihre Beine so zu zittern an, dass sie sich erst einmal setzen musste.
Sie war froh, dass ihr bis zu dem Treffen mit Mister
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