Das Geheimnis des Nostradamus
anfing zu rasen. Ob sie sich Manuel Boisset anvertrauen sollte? Er war doch fremd. Neugier brodelte in ihr auf wie schäumender Sud. Aber andererseits warteten ja die kleine Suzanne und René auf sie…
Marie schaute hinüber zu den Stadttoren. Die Türme zeichneten sich schwarz gegen den immer dunkler werdenden Himmel ab. Sie spürte die fröstelnde Kühle, die langsam aus der Erde stieg. Ein Schwarm Krähen jagte krächzend hoch. Fast unbemerkt huschten Ratten lautlos an den Hauswänden der Rue St. Georges entlang, nagten an Unrat und schnupperten an ausgestreckten Beinen. Ein weißer Nebelschleier legte sich sachte über die Felder, als wollte er das Land mit einem Leichentuch einhüllen.
Schon vor der Morgendämmerung hatte Nostradamus Agen de Provence mit einer zweispännigen Kutsche verlassen. Das gleichmäßige Rattern der Räder hatte sich bald in den fernen Pinienwäldern verloren. Irgendwann wehte der Wind noch das erschrockene Wiehern eines Pferdes herüber, dann war es still. Selbst das Zwitschern der Vögel war verstummt, als hätte eine giftige Wolke jeden Laut im Keim erstickt. Die Flüchtlinge auf den Straßen verharrten regungslos, als wollten sie demütig ihr Schicksal annehmen, um endlich von einem göttlichen Wunder erlöst zu werden. Selbst die Straßenköter lagen ruhig unter Torbögen und in Nischen, die verstrubbelten Köpfe auf die Pfoten gelegt. Nur ein paar Geckos huschten an den Steinwänden der Häuser entlang, am Brunnen vorbei auf die Lavendelfelder hinaus.
Als Marie das Wohnzimmer der Arztfamilie betrat, war Catherine gerade dabei, ein paar Sachen zu packen. Die kleine Suzanne hatte schon ihr Leinenkleidchen an und kämmte sich mit einer Holzbürste aus Wildschweinborsten das blonde Haar. Übermütig rannte sie auf Marie zu und warf sich ihr in die Arme. »Marie! Marie! Marie!«, krähte sie.
»Ich habe mir überlegt, dass ich doch heute meine Eltern besuchen kann«, meinte Catherine. »Es ist ja nicht so weit bis zum Ende der Stadt. Morgen Abend bin ich zurück!«
»Soll ich Euch begleiten?«, fragte Marie.
Catherine schüttelte den Kopf und steckte ihr einen Schlüssel zu. »Die Kindersachen müssen gewaschen werden. Ich habe auch noch nicht die Bettpfannen geleert und die Küche muss geschrubbt werden.«
Die kleine Suzanne fuhr Marie mit ihren klebrigen Händchen durchs Gesicht, betatschte ihre Sommersprossennase und gab ihr einen nassen Kuss auf die Wange. »Marie soll mit!«, brabbelte sie.
»Das geht doch nicht!« Marie schnupperte an Suzannes weichem Lockenhaar. Wie gut es duftete! Ob Nostradamus das neue Haarwaschmittel mit Rosenölen gemischt hatte? »Morgen kommst du doch zurück. Dann sehen wir uns wieder!«
Als Catherine etwas später mit den Kindern das Haus verließ, öffnete Marie das bleiverglaste Fenster. Es warf tanzende Sonnenflecken auf die Häuserwände der anderen Straßenseite.
»Marie! Marie!«, krähte Suzanne von unten. »Bis morgen!«
»Bis morgen!«, lachte Marie und winkte ihnen nach. Die hellen Händchen von Suzanne flatterten durch die Luft und warfen ihr Windküsse zu, bis sie in der Menge der Rue St. Georges untertauchten.
Gerade, als sie das Fenster schließen wollte, entdeckte sie Manuel Boisset, der ein braunscheckiges Maultier am Zügel hielt. Es war mit einer schweren Ledertasche bepackt und zuckte unablässig mit den Ohren. Dutzende von Fliegen, vom Unrat der Gosse angezogen, surrten um seinen Körper. Sogar eine Ratte hatte die Scheu vor dem Tageslicht verloren und wuselte zwischen seinen staksigen Beinen hindurch. Jetzt schaute Manuel Boisset hoch und winkte Marie mit der Mütze zu. Sie schnappte kurzentschlossen ihre Joppe, rannte die Holztreppen hinunter und schloss die Tür des Arzthauses hinter sich zu.
»Willst du jetzt los?«, fragte sie atemlos, als sie auf ihn zulief. Hastig verstaute sie den Schlüssel in dem Lederbeutel, der an ihrem Gürtel hing. »Nach Montségur?«
Manuel lächelte verschwörerisch und tätschelte dem Maultier das borstige Fell. Fliegen surrten auf und hockten sich wie faulige Flecken auf die Ledertaschen. »Und? Was ist? Kommst du mit? Ich habe auf dich gewartet.«
Überrascht schaute sie ihn an. »Du wusstest, dass Catherine Notredame mit den Kindern…«
Manuel nickte. Seine Augen blitzten sie verschmitzt an, während er ihr zuraunte: »Die Stadt hat tausend Ohren!«
»Und die anderen?«, stotterte Marie verunsichert. »Da waren doch noch andere, die auch dahin wollten.«
Manuel
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