Das Geheimnis des Nostradamus
Vogelgezwitscher tschilpte in ihren Unterschlupf. Als Marie ihm folgen wollte, rutschte das schwere Tuch von ihren Schultern. Es war eine schwarze Priesterkutte. Nachdenklich faltete sie das Gewand zusammen und legte es auf die Ledertasche. Als Manuel wieder in den Vorraum trat, schimmerte ein unwirkliches Licht von draußen herein und umspielte seine bleichen Lippen.
Schon bald brannte die Sonne wieder vom Firmament. Die Felder dampften, der Geruch von Lavendel und Thymian mischte sich mit frischer Erde.
»Und?«, lachte Manuel übermütig, als sie wieder aufbrachen. »Sind dir irgendwelche Geister begegnet?«
Marie schüttelte den Kopf und atmete tief durch. Vorsichtig trat sie auf die Felssteine, die schon bald wie fahle Knochen aus der matschigen Erde ragten.
Wozu er wohl diese Priesterkutte brauchte, überlegte sie. Aber in diesen Zeiten war ja jedes weiche Laken willkommen, das als Lager dienen konnte. Marie schüttelte den Kopf, als wollte sie lästige Gedanken vertreiben. Nachdenklich beobachtete sie Manuel, der Disteln pflückte, um den Maulesel damit am Hintern zu kitzeln. Tatsächlich ließ er sich antreiben und sie marschierten los. An der Heil bringenden Quelle füllten sie noch einmal die Trinkbeutel aus Ziegenleder. Marie schaute dankend hoch zum Himmel. Schon allein dafür hatte sich die beschwerliche Wanderung gelohnt.
Erst spät am Abend erreichten sie die hohen Stadttore von Agen. Sie waren längst geschlossen. An den düsteren Stadtmauern brannte in einer eisernen Halterung eine Pechfackel. Vor den Toren lagerten auf Lumpen erschöpfte Menschen, die sie gleichgültig anstarrten. Aus dem Dunkel trat ein Wächter hervor, sein silbriger Brustpanzer schimmerte im flimmernden Fackellicht.
»Halt, wer da?«, rief er und reckte sich. Trübes Licht fiel auf sein aufgedunsenes Gesicht.
»Monsieur Grillier, ich bin’s doch, Marie.« Das Mädchen lief auf ihn zu. »Marie Sécourt! Erkennt Ihr mich nicht?«
»Marie, was treibst du denn so spät hier?«, fragte er verwundert.
»Ich habe Wasser aus einer Heilquelle für den Vater geholt. Und dann sind wir von einem Gewitter überrascht worden!«
»Du warst mit dem da unterwegs?«, fragte er weiter. Seine Stimme wirkte spröde. »Stammt er von hier? Wir haben die Anordnung bekommen, keinen einzigen Flüchtling mehr aufzunehmen. Die Stadt ist restlos überfüllt.«
Ein paar Wächter kamen aus der Dunkelheit näher. Ihre Schwerter blitzten im Licht der Fackeln auf.
»Aber… das ist Manuel Boisset«, stotterte Marie. »Ihr kennt ihn doch, oder?«
Manuel kam mit festen Schritten auf ihn zu und verbeugte sich höflich. »Aber Monsieur Grillier, wollt Ihr behaupten, mich nicht zu kennen?«, lachte er, während er auf den Maulesel zeigte, der gerade sein sabberndes Maul an seiner Hüfte rieb. »Aber den da, den kennt Ihr doch? Das ist der Esel, der Euch letztes Frühjahr einen Tritt…«
»… ja, schon gut«, brummte Monsieur Grillier unwirsch und rief: »Lasst sie durch, ich kenne sie.«
Raunen war zu hören, dann Füßescharren. Die schweren Torflügel wurden geöffnet. Ob die Himmelspforten auch so aussahen?, überlegte Marie in der Dunkelheit der Nacht. Oder ob so ein düsterer Weg nicht doch eher in die Hölle führte?
»Ich danke dir«, lächelte Manuel, als sie vor dem Stadtbrunnen standen, und nahm sie zärtlich in den Arm. »Ohne dich hätte ich draußen bleiben müssen.«
Marie fühlte die Wärme seiner Haut. Es war wie ein Brennen, das ihren Körper durchzog. »Woher wusstest du, dass Monsieur Grillier vom Esel getreten wurde?«, fragte sie leise.
»Der Zufall wollte es so. Ich habe mir das Maultier von seinem Nachbarn geliehen. Der erzählte mir, dass er einem Wächter Grillier vor einiger Zeit einen Tritt versetzt hat…«
Hand in Hand schlenderten sie durch die kleine Gasse auf eins der windschiefen Häuser zu, in dem Marie wohnte. Kerzenlicht flackerte in einem Fenster, der Bretterverschlag war geöffnet. Eine Gestalt beugte sich weit heraus.
»Bist du es, Marie?«, hörte sie die drängende Stimme ihrer Mutter. Sie klang besorgt. Dann war ein keuchendes Husten zu hören.
»Ja, Mama!« Marie riss sich von Manuels Hand los. Einen winzigen Moment blieb sie stehen, er strich ihr übers lockige Haar und drückte ihr den Beutel aus Ziegenleder in die Hand. Dann lief sie los. »Ich habe Heilwasser. Heilwasser für Papa!«
Ihre schnellen Schritte knirschten auf dem Sandweg. Dann öffnete sich mit leisem Quietschen eine
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