Das Geheimnis des Nostradamus
Tempelritter!, fuhr es Marie durch den Kopf. Unwillkürlich blickte sie sich nach allen Richtungen um. Sie fühlte sich, als wären brennende Augen auf ihren Rücken gerichtet. War dort nicht ein helles Aufbäumen in der flirrenden Sonne? Ein nebliges Huschen zu den Felsen herüber?
Der Weg wurde immer steiler. Manuel nahm ihre Hand und hielt sie fest, wenn sie mit ihren glatten Lederschühchen über Steine wegrutschte. Marie fühlte den Schweiß zwischen ihren Händen, trotzdem klammerte sie sich ängstlich an ihn. Ob die Seelen der Katharer wirklich noch hier herumirrten? Würden sich die Geister der Tempelritter zeigen?
Endlich waren sie bei den alten Mauern angekommen.
»Hallo, ihr Geister! Wo seid ihr?«, rief Manuel. Eine gespenstische Stille umgab sie, in die sein eigenes Lachen hineinhallte.
Plötzlich kam ein Wind auf, erst ganz leise und säuselnd. Dann fuhr er pfeifend und zischend zwischen den uralten Mauern hindurch. In der Ferne wölbten sich düstere Wolken auf, schweflige Spiralen taumelten wie aufgewirbelt hoch. Allmählich bäumten sich Wolkentürme auf, als würden sie von wild gewordenen Himmelsriesen über das Firmament gejagt. Mit einem Mal peitschten Sturmböen über das Gemäuer.
»Komm, hier rüber!«, rief Manuel und packte Marie am Handgelenk. »Da sind wir sicher!« Er zog sie zu einem halb verfallenen Eingang, der in einen überdachten Unterschlupf führte. Und schon klatschten die ersten dicken Tropfen auf den ausgetrockneten Boden. Im nächsten Moment stürzten schwere Regengüsse vom Himmel. Blitze schossen wie Feuersalven nieder. Dann folgte ein Krachen, als würden die Seelen der Toten ihre Rache auf die Erde schleudern. Marie verkroch sich in die hinterste Ecke der Kammer und zog fröstelnd die Schultern hoch. Mörtel rieselte aus der grob gemauerten Steinwand, an der sich Unkraut festgebissen hatte. Jetzt öffnete Manuel seine lederne Tasche und zog ein schweres Tuch heraus, das er fürsorglich um ihre Schultern legte.
»Ob Nostradamus auch schon hier war…«, meinte er nachdenklich, während er hinaus ins Unwetter schaute.
»Ich glaube nicht. Er hat nur von Montségur gesprochen.« Marie fühlte ein unbändiges Zittern in ihrem Körper. Wuchsen dort nicht bleiche Schatten aus der peitschenden Regenwand, weiß schimmernde Gestalten, die auf einem Meer von sirrenden Tönen daherschwebten? Sie rückte näher an Manuel heran, der schützend den Arm um sie legte. Sie spürte die Wärme seines Körpers, die allmählich durch den schweren Stoff kroch. »Nostradamus ist wirklich ein großer Gelehrter, er weiß sicherlich alles über die Katharer und Waldenser…«, sagte er.
»Oh ja«, meinte Marie und lächelte zaghaft. Sie spürte Stolz in sich aufsteigen. »Er ist ja oft bei Monsieur Scaliger und debattiert mit ihm über die neuesten Entwicklungen im Lande.«
»Auch über die Lutheraner?« Manuel fuhr zärtlich mit den Fingern über ihre Schultern. »Oder die Waldenser? Weißt du, die Inquisition wird immer unnachgiebiger.«
»Ich denke schon, dass sie sich darüber austauschen. Aber Nostradamus hat mit denen nichts zu tun.«
»Wieso bist du so sicher?« Manuel lachte, strich mit dem Zeigefinger über Maries Sommersprossennase und raunte ihr zu: »Wer weiß heutzutage schon, was in einem anderen Menschen vorgeht? Und ich denke, du wirst nicht das Vermögen haben, in die geistige Welt dieses großen Gelehrten einzudringen.«
Sie senkte verlegen den Blick. »Ich weiß es aber! Sein Name kommt doch schließlich von der Heiligen Jungfrau Maria.«
»Von Maria?« Manuel sah sie mit großen Augen an.
»Ja, verstehst du nicht? ›Notre Dame‹, ›unsere liebe Frau‹. Schließlich hat sich sein Großvater doch in der Kirche ›zu unserer lieben Frau‹ taufen lassen.«
»Wieso taufen lassen…?«, fragte Manuel verwundert und zog spöttisch eine Augenbraue hoch. »Was du nur willst! Heutzutage lässt sich doch jeder taufen…«
»Er kommt doch aus einer jüdischen Familie…«, antwortete sie trotzig, stockte aber im gleichen Moment. Hatte sie nicht Catherine versprochen, kein Wort darüber verlauten zu lassen? Aus den Augenwinkeln sah sie zu Manuel hoch, der jetzt die Augen geschlossen hielt und die Tonfolge einer alten Motette summte.
Der Regen hatte inzwischen nachgelassen. Erstes Blau blitzte wie blank gewischt hinter zerfaserten Wolkenbergen auf. Manuel nahm vorsichtig den Arm von Maries Schultern und reckte sich. Dann stand er auf und stapfte nach draußen.
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