Das Geheimnis des Nostradamus
lächelte ihr zu, während er das Maultier am Zügel vorwärts zerrte. »Die sind schon losmarschiert. Aber wenn wir uns beeilen, holen wir sie ein.«
Einen Moment zögerte Marie. Als Manuel aber den störrischen Esel am Hinterteil anschob, damit er endlich losmarschierte, huschte ein Lächeln über ihr Gesicht und sie lief ihnen hinterher.
Über Stunden wanderten die beiden über ausgetrocknete Wege, vorbei an hügeligen Feldern und Pinienwäldern, aber von den anderen Pilgern war weit und breit nichts zu sehen. Immer wieder stockte der Maulesel und musste mit leichten Rutenschlägen angetrieben werden. Trockene Halme und Stechginster piekten Marie in die nackten Beine. Durch die dünnen Schnürschuhe spürte sie jeden Stein. Mücken surrten über ihre Haut, die Stiche juckten höllisch. Manuel hatte ein Fläschchen Olivenöl dabei und bestrich die roten Pusteln mit der duftenden Essenz.
»Du kennst dich aber mit solchen Sachen gut aus«, meinte Marie überrascht. Sie spürte ein Frösteln unter der Haut, als er mit der Fingerkuppe sanft über ihren Arm strich. Dann tupfte er ein paar Tropfen von dem Öl unter seine Augen. »Es beugt ja auch Falten vor!« Er spitzte seine Lippen wie eine kokette Jungfer, dann lachte er laut los. Feine Fältchen durchzogen seine Augenwinkel. Mit dem Handrücken wischte er das Öl weg und leckte es ab. »Das Zeug soll ja wirklich für alles gut sein, aber so ist es mir lieber.«
Wieder zerrte er den störrischen Maulesel am Zügel weiter, während Marie nachdenklich hinter ihm herlief. Ob es wirklich richtig gewesen war, sich dem Fremden anzuschließen?, ging es ihr immer wieder durch den Kopf. Aber andererseits verhielt sich Manuel sehr fürsorglich. Er hatte sogar einen zweiten Trinkbeutel aus Ziegenleder für sie verstaut.
Zur frühen Mittagszeit setzten sie sich in den Schatten einer alten Steineiche und aßen frisches Brot, Oliven und Schafskäse. Sogar etwas Honig hatte Manuel eingepackt. Es schmeckte köstlich.
Die Hitze knallte aufs Land. Das strahlende Blau des Firmaments schien sich in flirrendem Licht aufzulösen. Der zirpende Gesang der Zikaden lag wie ein Teppich über dem ausgedörrten Land.
Endlich erreichten sie Rennes-Les-Bains. Kühle Quellen, denen wundersame Heilkräfte zugeschrieben wurden, sprudelten aus der Erde. Marie ließ das prickelnde Wasser durch ihre verschwitzten Hände rinnen und wusch sich das Gesicht, während Manuel die Beutel aus Ziegenleder nachfüllte.
»Kommen wir hier auf dem Rückweg vorbei?«, fragte sie. »Ich könnte doch für meinen Vater etwas mitnehmen, vielleicht hilft es ja auch gegen seinen keuchenden Husten.«
Manuel nickte. »Wir fragen drüben im Gasthof nach, ob sie noch eine große Schweinsblase haben. Notfalls reichen ja auch die Trinkbeutel.«
Marie schaute zu dem Gasthaus hinüber, über dessen Tür ein ausgestopfter Wildschweinkopf mit weit aufgerissenen Augen hing. Es sah aus, als würde er mit seinem toten Blick jede Bewegung von ihr verfolgen. Eine seltsame Stimmung lag über dem Land. Der kleine Ort war von einer Seite von düsteren Bergen abgegrenzt, als läge dort ein schlafendes Tier. An einer Stelle gab es eine Schlucht, daneben bäumte sich ein Felsen auf, der wie ein grauer Totenschädel herausragte, um den Aufstieg zu überwachen. Auf einem steilen Berg erhoben sich schroff die Überreste eines Burgtempels, der einsam und gespenstisch in das Firmament ragte.
Manuel deutete mit dem Finger hinüber und flüsterte ihr zu: »Es heißt, man könne heute noch das Blut der Katharer riechen und der Berg schreie nach Rache.«
Sie brauchten knapp eine halbe Stunde, um den Fußweg zu erreichen, der zum Gipfel führte. Den Maulesel banden sie an eine der gedrungenen Steineichen, die vor dem spröden Fels wuchsen. Manuel nahm seine Ledertasche, dann kletterten sie den steilen Pfad zum Gipfel hoch.
»Als die Belagerten wussten, dass ihre Stunde gekommen war«, flüsterte Manuel, »warfen sie ihre heilige Glocke, ein silbernes Glöckchen, hinunter in die Schlucht. Es heißt, dass am Jahrestag der Zerstörung des Tempels diese Glocke wieder läutet und der Wind ihren Klang über den Berg trägt.«
Für eine ganze Weile blieben die beiden still und lauschten. Aber nur die Zikaden zirpten und die trockenen Gräser knackten unter ihren Schritten.
»Und ist man furchtlos und unerschrocken«, fuhr Manuel leise fort, »so erscheinen weiß schimmernde Ritter mit großen, blutroten Kreuzen auf der Brust.«
Die
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