Das Geheimnis des Nostradamus
der Luther die Gedanken der Menschen vergiftet hat«, raunte eine Zweite, die aus den Augenwinkeln zu dem nackten Toten hinüberschielte. »Und für die Juden, die den Sohn Gottes ans Kreuz geschlagen haben!«
Nostradamus bahnte sich den Weg an Sterbenden und hilflos Herumirrenden vorbei.
»Michel«, hörte er eine vertraute Stimme. Es war ein reicher Handelskaufmann, der vor längerer Zeit mit seinem Vater Geschäfte abgeschlossen hatte und jetzt mit verzerrtem Gesicht am Boden lag.
»Ein Glas Wasser, nur ein Glas Wasser!«, keuchte er.
Nostradamus sah seine schwarzen Beulen, riss sich los, als der Sterbende mit zitternden Händen seinen Ärmel umklammerte, und hetzte weiter. Ein Prediger streckte seine sehnigen Arme dem Himmel entgegen, während sein gelbgesichtiger Gehilfe eintönig eine Laterne hin und her schwenkte. »Aus Staub bist du gemacht und zu Staub wirst du wieder werden!« Seine Stimme knarrte wie ein verstimmtes Instrument durch die Straßen.
Endlich stand Nostradamus vor dem Pesthaus. Die schwere Eichentür stand weit geöffnet. Der Eingang wirkte wie ein stinkendes Loch, aus dem gequälte Schreie hervordrangen. Die Wächter waren längst davongelaufen. Der Arzt drängte sich an Menschenleibern vorbei, deren Gesichter von offenen Wunden entstellt waren. Eine dickliche Nonne, die ein Tuch vor ihren Mund gepresst hielt, lief ihm entgegen.
»Wo sind sie?«, fragte Michel gehetzt, als er Schwester Marianne erkannte. »Wo sind Catherine und die Kinder?« Seine Unterlippe zitterte, als er in die müden Augen der Ordensfrau sah.
Die Nonne winkte ihn in einen düsteren Raum. Durch ein schmales, vergittertes Fenster fiel etwas Licht auf ein Lumpenlager, auf dem seine Frau lag. Das Haar hatte sich gelöst, ihr Atem ging gepresst. Suzanne und René hielt sie fest in ihren Armen. Ihre schweißnassen Köpfchen hatten sie in Catherines Samtmieder gedrückt. Michel sank auf die Knie und streichelte sanft mit der Hand über ihr verklebtes Haar. Jetzt zuckten Catherines Augenlider wie die Flügel eines Falters, der nicht mehr die Kraft hat, davonzufliegen. Ein erlösendes Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie ihn erkannte.
»Ihr werdet leben, hörst du!« Michels Stimme klang wie erstickt. Tränen standen ihm in den Augen. »Ich hole euch hier heraus. Das Pulver, ich habe das Pulver dabei…«
Catherine versuchte zu lächeln. Schweißperlen standen ihr auf der Stirn. Ihre Lippen waren eingerissen.
»Du musst versuchen, es zu schlucken!«, keuchte er. »Dann kommen die Kinder…«
Mit zitternder Hand zog er ein silbernes Kästchen aus der Tasche seines Umhangs und klappte den Deckel auf. Dann schob er seinen Arm unter ihre Schultern, um sie aufzurichten. Da rollte die kleine Suzanne aus ihren Armen. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie ihn an. Ihr leerer Blick war in die Ferne gerichtet. Der kleine Mund war spröde verzerrt. Ein Rinnsal Blut aus ihrer Nase war mit blonden Lockenhaaren verklebt.
»Suzanne!« Nostradamus’ Schrei hallte durch den düsteren Raum. Er fasste nach den leblosen Händchen. Zerrupftes von Leinenstreifen bröselte heraus. Winzige Fäden taumelten hinunter auf den Lehmboden, als wollten sie ein letztes Mal an die Worte des Predigers erinnern: Aus Staub bist du gemacht und zu Staub wirst du wieder werden!
Michel schüttelte den leblosen Körper des Mädchens, griff nach René, der in seltsamer Stille in Catherines Arm verharrte.
»Michel!«, hauchte Catherine und öffnete ein wenig die Augen. Das düstere Licht spiegelte sich in den geweiteten Pupillen. Tiefe Schatten hatten sich um ihre Augen eingegraben. »Wo warst du?«
»Pst, leise!«, flüsterte er und versuchte das Schluchzen in seiner Stimme zu unterdrücken. »Ganz ruhig. Du darfst dich nicht anstrengen.«
Catherine hustete und würgte. Ihre Stirn glühte vor Fieber, ihr Leib wand sich unter Krämpfen. »Wo warst du?« Ihre Stimme klang wie ein zaghafter Windhauch. Nostradamus hielt noch immer das silberne Kästchen mit dem sonderbaren Pulver in der Hand. In der Seitenwand des Kästchens spiegelten sich verzerrt die toten Leiber seiner beiden Kinder. Er spürte nicht, wie ihm die Tränen übers Gesicht liefen und wie sein Körper zitterte.
Übervorsichtig schob er seinen nackten Arm unter ihren Körper. Ihr Samtkleid war verschwitzt, das Haar klebte an seinen Fingern. Langsam hob er sie an den Schultern hoch, während er ihren Kopf mit seiner flachen Hand stützte. Catherine verdrehte benommen die Augen. Immer
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