Das Geheimnis des Nostradamus
schreiend durch die Rue St. Georges, andere hielten ein Stück Linnen fest gegen das Gesicht gepresst. Einige sackten in sich zusammen und wanden sich in Zuckungen. Wieder andere irrten im Fieberwahn durch die Gassen und spuckten schwärzliches Blut.
Wie betäubt lief Marie durch die Straßen. Da drüben war das Sterbehaus, wo unheilbar Kranke letzte Hilfe fanden. Auf Decken und Bahren wurden Pestkranke herangeschleppt. Ein Pulk von Menschen wurde an einer Stelle von Wächtern zusammengetrieben. Ein schluchzendes Weib brach über dem leblosen Körper ihres Kindes zusammen.
Plötzlich hörte Marie die verängstigte Stimme eines Mädchens. Sie flatterte wie ein verletzter Vogel über das Stimmengewirr der anderen hinweg. »Marie, Marie! Hol mich hier raus!«
Marie entdeckte Suzanne und Catherine zwischen den Menschen, die laufen konnten und jetzt ins Pesthaus getrieben wurden. Catherine war leichenblass und hustete, als wollte sie alles Elend aus sich herauswürgen. Auf dem Arm trug sie René, der mit großen Augen verständnislos um sich herumschaute.
»Marie, Marie!«, hörte sie wieder die gequälte Stimme von Suzanne. Sie hatte sich zwischen die Wachleute gedrängt und ihre Ärmchen hochgereckt. Einer von den Wärtern schlug ihr mit der flachen Seite eines Dolches auf die Hand und scheuchte sie zurück. Marie blieb wie erstarrt stehen, als hätten seelenlose Geister sie in einen schwerelosen Traum verbannt.
»Marie!«, schluchzte die Kleine wieder. Tränen liefen ihr übers Gesicht, das mit Schmutzschlieren verschmiert war. Die blonden Locken hingen wirr über ihre Schulter. Jetzt wurden sie mit Schwertern ins Pesthaus getrieben. Catherine stolperte über die Stufen, der kleine René rutschte ihr vom Arm.
»Catherine!« Marie schüttelte wie benommen den Kopf. Das war kein Traum. »René! Suzanne! Wir holen euch! Nostradamus muss jede Minute zurück sein.«
Ein Wachmann schob sie barsch zurück. »Verschwinde! Hier hast du nichts zu suchen!«
Andere Menschen wurden nachgedrängt. Sie hatten schwarze Beulen am Hals, offene Wunden im Gesicht. Die Wachleute hielten sich die Menge mit ausgestreckten Schwertern vom Leib. Aber was war mit Catherine und den Kindern? Marie spürte eine unbändige Hitze in sich aufsteigen. Sie waren doch nicht krank! Sie mussten in die Menge geraten sein, die von der Pest befallen war! Jetzt begann auch die Glocke der Abtei stürmisch zu läuten. Der Wind wehte den Geruch von Verwesung und Brand durch die kleine Stadt.
Marie rannte zurück zum Arzthaus. In ihrem Kopf dröhnte und wimmerte es. Ein kreischendes Pfeifen zog durch ihre Ohren. Plötzlich stand Nostradamus vor ihr. Er wirkte blass und ausgezehrt. Der Bart in seinem Gesicht war verdreckt vom Straßenstaub.
»Catherine!«, stammelte er. »Wo sind die Kinder?«
»Im Pesthaus«, schluchzte Marie. »Ich habe gesehen, wie die Wachen sie da reingetrieben haben.«
Michel Nostradamus schnappte seinen Umhang, rannte die Treppe hinunter auf die Rue St. Georges und drängte sich an stöhnenden Menschen vorbei in Richtung Pesthaus. Als er die Rue St. Martin überquerte, wurde vor ihm eine Kinderleiche einfach aus dem Haus geworfen. Immer mehr Kranke liefen verzweifelt durch die Straßen. Manche hatten schwarze Beulen in den Gesichtern, Blut lief ihnen aus der Nase. Es war, als hätte sich die Seuche wie eine riesige schwarze Spinne über die Stadt gelegt, die mit einem Schlag jegliches Leben vernichten wollte. Selbst aus Kirchen und Freudenhäusern rannten sie auf die Straße und wussten nicht, wohin. Wo war der Heil bringende Gott? Wo war Maria, die Fürbitterin? Mit Furcht erregendem Grinsen im Gesicht tanzte ein Alter nackt im Schmutz der Gosse. Sein Leib war mit schwarzen Beulen übersät. Er ballte in wirren Verrenkungen die Fäuste und streckte sie drohend in die Luft. »Die Rache ist mein, rief der Herr. Wie faulige Maden fällt der Tod vom Himmel und sucht sich seine Opfer«, gellte er mit krächzendem Gelächter. Ein grässlicher Schrei fuhr wie ein letztes Aufbäumen aus seinem Körper. Dann sackte er in sich zusammen und blieb leblos auf dem Pflaster liegen. Vor den Stadthäusern der Reichen wurden Pferdekarren angespannt und mit Geldsäcken, Silbergeschirr und Hausrat beladen. Nonnen standen in ihren dunklen Gewändern beieinander wie Todesboten und beteten den Rosenkranz.
»Die Pest ist Gottes Strafe für die Sünden der Welt«, flüsterte die eine verbittert und senkte den Blick.
»Die Strafe für die Ketzerei, mit
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