Das Geheimnis des Nostradamus
wieder blitzte das Weiße auf, als versuchte ihre verwundete Seele mit letzter Kraft in diese Welt zurückzukehren. Ein Hauch von einem Ächzen fuhr durch ihren Körper. Mit zitternden Fingern bestäubte er ihre Lippen mit dem rötlichen Puder.
»Leck es ab und schluck! Bitte schluck!«, flehte er, während er zärtlich ihren Kopf schüttelte. »Bitte schluck!« Gehetzt schaute er zu René, seinem geliebten kleinen René, dessen Köpfchen regungslos auf ihrem Samtmieder lag. Fast erstaunt schien das Kind in eine andere Welt zu starren. Ein erlösendes Lächeln lag auf seinen bleichen Lippen, als hätte der Todesengel ihn mit sanftem tödlichem Kuss in eine glanzvolle Sphärenwelt entführt. Jetzt zuckte Catherines Körper wie unter höchster Anspannung. Sie hustete, Blut rann aus ihren Mundwinkeln.
»Schluck, bitte schluck das Pulver!« Nostradamus schlug ihr mit dem Handrücken auf die Wangen. »Hör doch. Schluck das Pulver!«
Da flackerten ihre Augenlider. Ihr Blick schien irgendetwas zu suchen, das nicht von dieser Welt war, in das sie schließlich eintauchte und regungslos verharrte.
»Catherine, Catherine!« Das geöffnete Silberkästchen fiel Nostradamus aus der Hand und klackerte auf die Bodenziegel. Das rötliche Pulver lag jetzt zwischen den Erdritzen verstreut, es schimmerte wie getrocknetes Blut.
Noch am gleichen Nachmittag wurden Suzanne, René und Catherine in frisch gezimmerten Särgen in aller Stille auf dem Friedhof St. Paul bestattet. Nostradamus hatte sich unbändig dagegen gewehrt, die toten Leiber seiner Lieben auf dem Pestkarren abtransportieren zu lassen. Benommen taumelte er zurück zur Rue St. Georges. Sein Körper war von Erde verdreckt, sein Haar hing ihm wirr ins Gesicht. Die Arme schlenkerten in hilfloser Wut an seinem Körper herunter.
»Wo ist denn dieser allmächtige, liebende Gott?«, brüllte er unter Tränen. »Musste er selbst die Kinder von mir nehmen? Die Kinder, die frei von jeder Erbsünde sind? Die noch keinerlei Schuld auf sich geladen haben?«
Er schlug mit den blanken Fäusten gegen die Steinmauern seines Hauses, als ihn der Schmerz zu überwältigen drohte, und schluchzte, bis er bewusstlos zu Boden sank. Irgendwann kroch ein beißender Geruch in seine Nase. Benommen zuckte er mit den Augenlidern. Es war Schwester Marianne, die in ihrer dunklen Tracht vor ihm kniete, in ihrer Handfläche hatte sie ein Riechsalz zerbröselt, das sie ihm unter die Nase rieb. Ihre wasserblassen Augen sahen ihn liebevoll an. »Kommt, so schmerzlich es für Euch auch sein mag. Aber Ihr werdet gebraucht! Die Menschen rufen nach Euch. Hier, Euer rotes Pulver. Ich habe zusammengekratzt, was ich noch finden konnte.«
Sie hielt dem Pestarzt das silberne Kästchen mit den feinen Ziselierungen entgegen. Unter Schmerzen streckte er seine Hand aus. Die Knöchel waren blutig aufgeschlagen, unter der Haut blitzte rohes Fleisch auf.
Als hätte der Himmel alle Kraft aus seinem Körper gesogen, wankte er hoch in den ersten Stock seines Hauses.
Als er die Klinke der Wohnzimmertür aufdrücken wollte, blieb er wie versteinert stehen. War es die Angst, die ihn zurückhielt? Die Angst vor der Leere, vor der Endgültigkeit? Nie wieder sollte er das helle Giggeln von Suzanne hören, das Juchzen von René, die liebevolle Stimme seines Weibes Catherine. Er schluckte und öffnete mit einem Ruck die Tür. Das leere Körbchen seines Sohnes stand in einem Lichtfleck, der durch das bleiverglaste Fenster fiel. Der Rosenstrauß war verblüht, die Blütenblätter lagen verdorrt auf dem Eichentisch. In einer Ecke befand sich ein Haufen schmutziger Kinderwäsche. Da entdeckte er die zitternde Gestalt eines Mädchens. Es war Marie. Sie saß an der hinteren Wand und schluchzte leise. Wieder spürte er den Schmerz, der sich wie ein spitzes Messer in seinen Körper bohrte.
»Sie haben alle schwarze Beulen und offene Wunden«, flüsterte sie mit erstickter Stimme. »Alle! Papa und Mama, Jacques und Juliette… Sie haben mich einfach mit Stöcken davongejagt… Auch Mama, meine geliebte Mama…«
Marie umfasste ihre Knie und vergrub ihr verweintes Gesicht in ihren dünnen Armen. Ihr lockiges, kupfernes Haar fiel wie ein Schleier nach vorn, als könnte sie sich dadurch vor dem unsäglichen Schmerz schützen. Sie zitterte trotz der Hitze am ganzen Körper. Schweißperlen liefen ihre Beine herunter. »Sie werden alle sterben! Ich konnte sie noch nicht mal zum Abschied umarmen.«
Michel ließ sich auf einen Sessel fallen.
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