Das Geheimnis des Nostradamus
Jungziege mit dem Wasser aus dem Stadtbrunnen getränkt und in einen Stall außerhalb der Stadttore gepfercht. Schon bald zeigte sie erste Anzeichen einer Krankheit, bis sie schließlich verendete.
Nostradamus verbrachte die knappe Zeit, die ihm blieb, im Labor, mischte Tinkturen, wandelte Rezepte ab und suchte nach neuen Wirkstoffen. Die Luft war getränkt vom Duft schwerer Öle und schwelender Substanzen. Oft saß er nachts bis zum Morgengrauen über alten Schriften und Folianten, lief wie besessen hin und her, bis er vor Erschöpfung einschlief. Marie hatte das windschiefe Haus ihrer Eltern nicht mehr betreten. Sie fürchtete sich vor der Vertrautheit, die ihr sicherlich wie ein Dolch in den Leib fahren und alte Wunden aufreißen würde. Auch die kleine Kammer von Suzanne und René blieb ungenutzt. Sie schlief auf dem grünen Wohnzimmersofa, das Weidenkörbchen stand unberührt unter dem Fenster mit der Bleiverglasung. Nostradamus gab Marie knappe Anweisungen, was sie zu tun hatte.
»Ich brauche noch mehr Rosenblätter«, sagte er diesmal. Sein Atem klang gehetzt. Die Augenlider zuckten, seine Gesichtshaut war wie ausgedörrt. »Bring alles, was du finden kannst. Sie müssen aber kurz vor Sonnenaufgang im Morgentau gepflückt sein!«
»Rosenblätter…?«, fragte Marie zögerlich und rieb sich über die fröstelnden Arme. Sie spürte, wie ihr Magen krampfte. Eine säuerlich bittere Flüssigkeit stieß ihr auf, hatte sie doch seit Tagen kaum etwas gegessen.
Nostradamus schloss kurz die Augenlider. »Ja, es liegt eine geheime Fähigkeit im Saft der Blätter. Verbunden mit anderen Substanzen können sie ungewöhnliche Kräfte entfalten. Wer weiß, ob ich im Kampf gegen den schwarzen Tod nicht einen gewichtigen Schritt weitergekommen bin…«
Schon früh am nächsten Morgen lag eine ungewöhnlich stickige Hitze in den Straßen. Es würde nicht mehr lange dauern, bis der Herbstregen niederprasseln würde, um die ausgetrockneten Felder in ein Blütenmeer zu verwandeln. Kaum tastete sich ein erster, rot glühender Hauch der aufgehenden Sonne über das Firmament, da streckte sich Marie am steinernen Torbogen schon nach den Kletterrosen. Die Gassen lagen noch still. Da! Plötzlich ein Knacken. Verängstigt drehte Marie sich um, ob nicht vielleicht der Geist der alten Madame Moulin aus der Haustür herausschlurfte, um das Kopfsteinpflaster zu kehren. Aber es war nur ein Straßenköter, der an den Hauswänden vorbeistreunte. Vorsichtig zupfte sie die samtenen Blüten von den Fruchtknoten und ließ sie in einen hohen Weidenkorb segeln. Ein betäubender Duft hüllte sie ein, als wollte er eine vergessene Sehnsucht aufwecken. Und tatsächlich sah sie ein Bild, das lange Zeit wie hinter einem Vorhang verborgen gewesen war: Da stand Manuel, der lächelnd seine Arme nach ihr ausstreckte. Seine Haare waren struppig zerzaust, seine Augen blinzelten ihr verschmitzt zu.
In diesem Moment stapfte ein Bauer mit seiner Ziege vorbei und ließ das Bild erlöschen. Neben ihm spazierte ein alter Seefahrer, der sich in Agen niedergelassen hatte. Sein runzeliges Ledergesicht war ausgetrocknet wie die Haut einer alten Rosine. Mit seinen schwarzen Augen schaute er kurz zu Marie herüber. Sie erinnerten sie an den undurchdringlichen Blick jenes Äffchens, das vor längerer Zeit ein fahrender Gaukler auf dem Marktplatz hatte tanzen lassen.
»Es waren die Lutheraner, die nichts als Unruhe stiften wollen!«, hörte sie den Bauern wettern, während er seine meckernde Ziege hinter sich herzog.
»Und die Juden! Die Juden haben schon oft Unheil über das Land gebracht«, antwortete der Seefahrer mit seiner dünnen Stimme. Sie klang eintönig und zerschnitt die Stille, als würde jemand ein altes Lied auf der Fiedel kratzen.
»Die Juden und die Lutheraner«, hörte sie noch aus der Ferne die dumpfbackige Stimme des Bauern, die allmählich vom kläglichen Meckern der Ziege übertönt wurde.
Marie taumelte. Beißende Übelkeit stieg in ihr hoch. Es war, als würde plötzlich der Boden unter ihren Füßen wegsacken. Sie atmete tief durch und rupfte noch die letzten Blüten von den Rosenranken. Dann lief sie erschöpft mit dem Weidenkorb zurück ins Arzthaus. Nostradamus hatte gerade aus Getreide einen Brei bereitet und mit Honig gesüßt.
»Komm, iss!«, sagte er mit gleichtönender Stimme und schob ihr eine gefüllte Schale zu. »Wir beide brauchen Kraft. Wer weiß, was das Schicksal noch für uns bestimmt hat!«
Marie nahm das
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