Das Geheimnis des Nostradamus
sie, wie ihre Finger zitterten. Sie spürte den Herzschlag, der ihr Blut wie aufgepeitscht durch die Adern pulsieren ließ. Dann hörte sie das erregte Raunen und gedämpfte Flüstern von Männerstimmen. Es hallte düster durch das hohe Kirchenschiff. Kerzenflammen ließen Lichtflecken über die Wände geistern, die sich in den goldfarbenen Kleiderlitzen der Marienstatue widerspiegelten. Ein betäubender Geruch von verbranntem Weihrauch lag in der Luft.
Marie huschte Säule für Säule näher an die Kapuzenmänner heran. Schleppende Worte drangen zu ihr herüber, erst zaghaft, dann immer lauter, als hätten sie sich aus finsteren Gewölben endlich den Weg zu den Sterblichen gebahnt.
»Der Jude ist heimtückisch wie eine Schlange«, raunte ein Buckliger, dem die Kapuze tief ins Gesicht hing. »Als recutitus lässt er sich durch die Taufe unserer heiligen Kirche bekehren. Er streift aber nur die verdorbene Hülle ab, um frisch gehäutet im neuen Gewande daherzukommen.«
»Sie schleimen sich in jede Ständeversammlung, in jedes Gericht ein und höhlen es von innen her aus!«, zischelte es.
»Es lebe Kaiser Franz I. der dieses Edikt erlassen hat. Die Lutheraner, Calvinisten oder wie sich die Hugenotten sonst noch schimpfen, gehören zu dem gleichen Pack. Wie empört war unser König, als man ihm ein Manifest von Luther ans Schlafgemach genagelt hatte!«
»Die Waldenser zelebrieren ihre Riten, als gehörten sie zu unsereins«, schimpfte einer leise.
»Es ist unsere heilige Pflicht, dass wir zu einem Kreuzzug im eigenen Lande aufbrechen!«, rief einer mit gedämpfter Stimme. »Die Scheiterhaufen müssen brennen!«
»Ja, die Scheiterhaufen müssen brennen!«, raunte es verschwörerisch.
In diesem Moment wurde mit lautem Krachen die hohe Kirchentür aufgestoßen, ein Windzug ließ die Kerzen aufflackern. Wilde Schatten huschten über die Wände. Das wirbelnde Licht ließ die bemalten Kirchenfenster aufleuchten. Ein stattlicher Mann in wallender Kutte stapfte geradewegs auf Marie zu, die sich hinter einer Steinsäule versteckt hielt. Sein bleiches Gesicht schimmerte im Licht der Kerzen gespenstisch. Blitzschnell huschte sie in einen der wuchtigen Beichtstühle und zupfte den Samtvorhang hinter sich zu. Mit angehaltenem Atem wartete sie in ihrem stockdunklen Versteck, bis die Schritte verhallt waren. Es roch nach Moder und altem Urin und sie versuchte ein plötzliches Würgen zu unterdrücken. Dann schob sie langsam den schweren Stoff einen Fingerbreit zur Seite und suchte nach dem Gesicht von Manuel.
»Die ersten Scheiterhaufen sind schon entzündet«, verkündete der Bleiche mit Genugtuung, während die anderen ihn ehrfurchtsvoll umringten. Sein Lockenhaar hing bis auf die Schultern hinunter. Lächelnd fuhr er mit dem Zeigefinger über den gepflegten Schnurrbart, ein Goldring mit eingefasstem Rubin schimmerte auf wie ein Tropfen Blut. »Seit dem Edikt von Fontainebleau sind uns gottlob nicht mehr die Hände gebunden. Im Lubérongebirge lehnen sich die Waldenser gegen die Ansiedlung katholischer Gemeinden in ihren Gebieten auf. Aber überall werden schlagkräftige Armeen von Freiwilligen aufgestellt, um die Ketzer für immer zu vernichten!«
Zustimmendes Raunen und Klatschen war zu hören, während er mit einer knappen Kopfbewegung sein Lockenhaar auf die Schultern warf. Jetzt war unter seinem Umhang der Umriss eines Degens und einer großen Pistole zu erahnen, die unter einem Gürtel steckte.
»Den Hugenotten soll es genauso ergehen!« Die krächzende Stimme des Buckligen überschlug sich fast. »Und den Juden auch!«
In diesem Moment schrie einer der Männer entsetzt auf, als hätte sich ihm soeben der Leibhaftige persönlich gezeigt. Unheimlich hallte der Laut von den Wänden der Kathedrale wider. Vor der Marienstatue sackte einer der Kuttenträger schattenhaft in sich zusammen. Erregtes Getuschel war zu hören. Worte wie »Verräter«, »Spione«, »Ketzer« und »Scheiterhaufen« irrten durch die Kathedrale. Kerzen wurden gelöscht, das Getrappel von Füßen war zu hören. Blitzschnell ließ Marie den Vorhangstoff herunterfallen und drängte sich verängstigt in die äußerste Ecke des Beichtstuhls. Dann schlugen Türen. Schritte verhallten in der Nacht.
Marie blieb wie betäubt in der Ecke sitzen. Was war geschehen? Ob Manuel bei den Kuttenträgern gewesen war? Sie hatte niemanden erkennen können, die Gesichter hatten zu sehr im Schatten der heruntergezogenen Kapuzen gelegen. Eisige Kälte kroch
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