Das Geheimnis des Nostradamus
unbarmherzig von den steinernen Bodenfliesen hoch. Marie hauchte in ihre klammen Hände und rieb sich über die kalten Beine. In der Kathedrale war alles still. Oder war da nicht ein Schlurfen zu hören? Ein leises Rascheln? Wieder stockte ihr der Atem und sie lauschte. In unendlicher Langsamkeit schob sie den Vorhang einen Spalt zur Seite. Am Marienaltar flackerte eine letzte Kerze, die wohl nicht richtig gelöscht worden war. Verängstigt ließ Marie ihren Blick durch die Gänge, über Kirchenbänke und an Säulen vorbei wandern, aber niemand war zu sehen. Sie wartete noch ein paar unendliche Minuten, dann schlüpfte sie zwischen dem Samtvorhang aus dem Beichtstuhl heraus. Regungslos blieb sie stehen. Das kleine Kerzenlicht ließ die düsteren Säulen, deren Schatten allmählich mit der Dunkelheit des Kirchenschiffs verschmolzen, noch unheimlicher erscheinen. Da entdeckte sie auf den Steinfliesen vor der Marienstatue eine düstere Gestalt, die leblos ausgestreckt lag. Die Augen des Toten waren weit aufgerissen, eine rote Pfütze breitete sich auf den marmornen Steinfliesen immer weiter aus. Plötzlich sprang mit einem wilden Aufschrei der Bucklige hinter einer Steinsäule hervor und hinkte in ungeahnter Schnelligkeit auf Marie zu. Seine schwarze Kutte wirbelte hoch, als hätte der Teufel ihr Leben eingehaucht. Marie schrie entsetzt auf und rannte wie besessen auf die Kirchentür zu. Ob sie abgeschlossen war? Der Bucklige kreischte und röhrte. Von einem Atemzug zum nächsten war sie schweißdurchnässt. Sie taumelte. Waren es die Hände dieser widerwärtigen Kreatur, die nach ihren Schultern packten? Sie spürte, wie ihr Schultertuch verrutschte. Da, der glänzende Türgriff! Sie zerrte mit aller Kraft, die Flügeltür öffnete sich und Marie stolperte nach draußen. Stand da nicht jemand dicht neben den Stufen? Da war doch ein schattenhaftes Gebilde, das sie regungslos anzustarren schien.
Jetzt stürzte sie los, sprang in einem Satz die Steinstufen hinunter und rannte weiter, während sie messerscharfe Blicke zu spüren glaubte, die mit eisiger Kälte in ihren Körper drangen.
Sie flüchtete durch die engen Gassen der Altstadt weiter, bis sie die Eingangstür ihrer neuen Unterkunft erreicht hatte. Mit einem unterdrückten Schrei riss sie die Holztür auf und verschwand im Treppenhaus.
Endlich stand Marie in der Küche. Fassungslos schnappte sie nach Luft. Das lange Haar klebte schweißnass an ihrem Körper. Die Haut war fiebrig erhitzt, als wäre in ihrem Leib ein flammendes Feuer entzündet. Marie stolperte in ihre Kammer, ließ sich auf das Nachtlager fallen und fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Noch in der Frühe berichtete Marie dem Arzt von ihrem Verdacht, dass Manuel mit den grauenhaften Eitersubstanzen den Wasserbrunnen vergiftet haben könnte. Sie erzählte von der Zusammenrottung der Kuttenträger in der Kathedrale, den Ereignissen im Lubérongebirge und dem grausigen Mord. Und von dem Buckligen, der johlend hinter ihr hergehumpelt war. Ihre leise Stimme klang brüchig, fast wie ein gequältes Tier, das sich Gehör verschaffen wollte. Nostradamus nickte geistesabwesend und fuhr sich mit den Fingern durch den spitz zulaufenden Bart. »Halt die Augen offen«, sagte er mit eindringlichem Unterton und drückte ihre Hand, während er gleichzeitig versuchte, mit seinen eigenen Augen in verschlüsselte Welten einzudringen.
Die nächsten Wochen zog sich Nostradamus ganz in seine Studien zurück. Tagsüber entwickelte er kräftigende Substanzen, heilende Salben und Aphrodisiaka bei Monsieur Bandon in der Apotheke, wo er sich ein kleines Labor eingerichtet hatte. Sein umfangreiches Wissen brachte ihm die Wertschätzung anderer gelehrter Männer aus Bordeaux ein und er war inzwischen nicht nur bei den reichen Bürgern hoch angesehen. Nostradamus lebte unauffällig, er vertrank kein Geld in düsteren Spelunken oder verrufenen Tavernen. Auch konnte ihm niemand genusssüchtige Ausschweifungen mit vollbusigen Dirnen nachsagen. Nachts saß er tief versunken über seinen Schriften, berechnete Horoskope, schrieb Abhandlungen und forschte in alten Büchern. Und er versetzte sich in Trance…
Marie verkaufte auf dem Marktplatz vor der Kirche Saint-Michel Marmeladen und Konfitüren, Verjüngungsmittel und Gesundheitstinkturen, die Nostradamus entwickelt hatte. Dabei wies sie auf die Apotheke des Monsieur Bandon hin, in der es noch eine größere Auswahl gab. Das Geschäft florierte. Schon bald wurde der
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