Das Geheimnis des Nostradamus
herrschaftlichen Höfe – wenn einmal Katharinas Gemahl Heinrich II. zum König von Frankreich gekrönt werden würde – sicherlich zu einem Tummelplatz von Visionären, Kartenlegern, aber auch Scharlatanen heranreifen würden.
Auf den Märkten fanden Bücher wie »Die Ephemeriden« von Johannes Stoeffler reißenden Absatz. Jahrbücher, in denen ungünstige Sternenkonstellationen angekündigt waren, wurden mit größtem Interesse verschlungen. In ganz Frankreich wurden Astrologen selbst vom hohen Adel umworben, die sich ihrerseits andienten, um vielleicht eines Tages von Katharina von Medici höchstpersönlich an den königlichen französischen Hof gerufen zu werden.
Die Schriften von Nostradamus wurden in hohen Auflagen nachgedruckt und verbreitet. Die Menschen gierten nach seinen Prophezeiungen, denn die Ereignisse trafen genauso ein, wie er es vorausgesagt hatte.
Als sich Lucie an diesem Morgen in ihrem dünnen Leinenkleidchen zu Marie an den Verkaufstisch drängte, war er bereits von Kundschaft aus allen Ständen dicht umlagert. Weinbauern hofften auf günstige Wetterprognosen, Mägde waren begierig zu erfahren, wann der beste Zeitpunkt war, um Kräuter auszusäen, Äpfel zu ernten und Haare zu schneiden. Auch das neue Büchlein »Traicté de Fardements« über die Zubereitung von Kosmetika, das auch Rezepte für Konfitüren enthielt, war gefragt.
»Komm her«, raunte Marie ihr zu. »Du musst mir helfen. Du kannst die Prophezeiungen verkaufen!«
Sofort fing Lucie an, Münzen aus entgegengestreckten Händen einzusammeln, um sie gegen die begehrte Schrift einzutauschen. Ihr frisch gewaschenes Haar schimmerte seidig und die entzündeten Risse an ihren Händen waren längst verheilt.
»Hättest du eigentlich Lust, mit mir zusammenzuarbeiten?«, fragte Marie verschmitzt.
Lucie sah sie überrascht an. Eine aufflammende Röte huschte über ihr Gesicht. »Du meinst, hier an diesem Verkaufsstand?«
Marie nickte, während sie einer blassen Dienstmagd eine Salbe gegen Sonnenflecken in die kraftlose Hand drückte. »Ja, es gibt hier so viel zu tun. Nostradamus ist einverstanden. Und bezahlt wirst du natürlich auch!«
Lucie drückte Maries Hand. »Dann muss ich nicht wieder in die Taverne?«
Marie kicherte leise, während ihre kupfernen Locken sich sanft hin und her wiegten. »Wenn du es mit mir aushältst…«
Lucie leckte sich über die fein geschwungenen Lippen, schnappte einen Stapel der Druckschriften und streckte sie hoch in die Luft. »Die neueste Ausgabe der Almanache, Prophezeiungen, die im ganzen Land Aufsehen erregen…«, rief sie mit übersprudelnder Stimme. Es schien ihr, als hätte eine überirdische Macht sie aus ihrem düsteren Schicksal herausgehoben, um ihr einen neuen Weg in die Zukunft zu zeigen.
Bis zur Mittagszeit waren sämtliche Schriften ausverkauft. Die beiden Mädchen arbeiteten Hand in Hand, wechselten Münzen, holten Nachschub aus der Apotheke, füllten Salben ab.
»Hast du das Neueste gehört?«, flüsterte ihr Lucie zu. »Maurice, der Spielmann, erzählte, am 14. Februar hätte man in Avignon drei Sonnen am Firmament gesehen.«
»Drei Sonnen?«, raunte Marie ihr zu. »Das ist doch ein sicheres Zeichen des Todes für alle Kranken und Schwachen!« Erschrocken wandte sie sich einem Bettler zu, der auf Krücken herangehumpelt war. Sie drückte ihm ein paar Sous in die schwielige Hand, während er sich schwerfällig verbeugte. Sein zotteliges, staubiges Haar hing ihm wirr ins Gesicht, eine glänzende Narbe zog sich hoch bis zur Stirn.
Plötzlich ging eine seltsame Unruhe um, als hätte sich ein lähmendes Fieber ausgebreitet. Die lauten Stimmen der Marktschreier verstummten, raunendes Getuschel ging von Mund zu Mund. Jetzt schmetterten Fanfaren durch die Luft.
»Macht Platz für den Bediensteten des Königs«, riefen Soldaten mit polierten Helmen und in Brustpanzern.
Mit ihren Hellebarden drängten sie Neugierige zur Seite und stießen Verkaufstische mit Obst, Käse und Rotweinen zur Seite, um dem hohen Gesandten zu Pferde den Weg frei zu machen. Rote Äpfel kullerten über das Pflaster, der Ziegenkäse wurde von den tänzelnden Hufen der nervösen Stute zerstampft. Endlich stand der hohe Gesandte mit seinem Pferd, das sich noch einmal um die eigene Achse drehte, vor der Kathedrale. Er trug ein hermelinbesetztes Barett, sein beigefarbenes Seidenwams war von schwarzen Samtstreifen überzogen. Über seiner Brust hing an einer langen, mit Perlen besetzten Kette ein
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