Das Geheimnis des Nostradamus
fließt…«
Marie presste verzweifelt die Lippen aufeinander. Warum hatte sie sich nur bei Manuel verplappert! Wenn Nostradamus etwas zustoßen würde, dann war es ganz allein ihre Schuld. Sie musste sich ihm anvertrauen! Noch in dieser Nacht!
»Tut mir Leid, aber ich muss jetzt los!« Lucie streichelte mit ihren rauen Händen tröstend über Maries Haar. »Die verdreckte Tavernenküche und diese verfluchten, angebrannten Töpfe sind noch zu putzen! Und dann die Feuerstelle mit dem kalten, schmierigen Fett!
Wie ich es hasse, jetzt noch Brunnenwasser zu schöpfen!«
»Musst du ganz allein diese Arbeit verrichten?«, fragte Marie.
»Ja, aber das Schlimmste ist, wenn in der Taverne irgendwer angetrunken in der Ecke hockt und mich mit seinen widerlichen Händen begrapschen will…« Lucie schluckte. »Wir sehen uns morgen, ja? Um die gleiche Zeit?«
Marie schluchzte kurz auf. Dann huschte ein zögerliches Lächeln über ihr Gesicht. »Ja, bis morgen, ich freue mich!«
Wie aufgescheucht lief Lucie los, fast lautlos huschte sie über das Straßenpflaster. Das zarte Auftreten ihrer Lederschühchen klang wie hingewischt und verlor sich schon nach wenigen Schritten.
Inzwischen hatten sich die kristallnen Himmelsschalen wie in einem ewigen Kreislauf weitergedreht und alles in verschwiegene Dunkelheit gehüllt. Gleichzeitig lockerten die Wolken auf, einige Sterne glitzerten zaghaft wie verirrte Lichtsplitter zur Erde herunter. Ein frischer Seewind wehte vom Hafenbecken her den Gestank von verdorbenem Fisch und Seetang durch die Gassen. Marie fröstelte und zog ihr feines Wolltuch enger um die Schultern. Gerade wollte sie zurück zu ihrer Wohnstätte laufen, als die schwere Kirchentür des Seitenportals einen Spalt geöffnet wurde. Ein atemloses Ächzen war zu hören. Ein flirrendes Lichtband durchschnitt die Finsternis. Es war, als hätte sich eine geheime Tür zu einer anderen Welt aufgetan. Da huschte eine düstere Gestalt in einer Priesterkutte auf die Kathedrale zu. Für den Bruchteil eines Atemzugs zeichnete sich ein Gesicht wie ein Scherenschnitt im Gegenlicht der Kerzen ab. Der Mund war leicht geöffnet, die Nase hochgereckt, als wollte jemand die Luft nach unbekannten Gerüchen absuchen, um das, was in der Finsternis verborgen lag, mit allen Poren der Haut aufzunehmen. Unwillkürlich drückte sich Marie näher an eine Mauer heran. Dann fiel die Tür lautlos ins Schloss.
Manuel? Marie fuhr sich verwirrt durchs Haar, lief die Stufen hoch zum Seitenportal und legte zögernd die Hand auf die Türklinke, die unter ihrer Haut wie kaltes Feuer brannte. Für ein paar Sekunden schloss sie die Augen. Wäre es nicht äußerst gefährlich, das Portal zu öffnen und dem geheimnisvollen Mann nachzuspionieren? Aber war sie das Nostradamus nicht schuldig? Marie presste entschlossen die Lippen zusammen und drückte die Kirchentür einen Spaltbreit auf. Im Seitenschiff vor dem Marienaltar standen dicht gedrängt Gestalten in schwarzen Kutten, die verschwörerisch miteinander tuschelten. Ihre Kapuzenköpfe hatten sie eng zusammengesteckt, Gesichter waren nicht zu erkennen. Sie wirkten wie ein düsteres Riesengeschwulst, das brodelte und kurz davor war, aufzuplatzen. Das sanfte Licht der Altarkerzen ließ die eingelegten Saphiraugen der Heiligen Jungfrau Maria aufblitzen, bunte Blumensträuße in goldumrandeten Vasen wurden in unwirklichen Glanz gehüllt. Plötzlich knallten von links Schritte über die marmornen Bodenplatten. Marie zog blitzschnell die Kirchentür so weit zu, dass nur noch ein haarfeiner Spalt blieb, um durchzulinsen. Kalter Wind fegte ihr von hinten ins Haar und fuhr fröstelnd ihren Rücken herunter. Im mittleren Kirchengang blieb jetzt breitbeinig ein Kerl stehen, der ihr den Rücken zuwandte. Seine Beinkleider steckten in hochgeschnürten Lederstiefeln. Die geflochtenen Zöpfe baumelten bis auf seinen ledernen Brustpanzer herab, der mehrere Einstichlöcher hatte. An seiner Hutkrempe war eine Feder befestigt, so wie es vor einiger Zeit noch die Landsknechte trugen. Am Gürtel hing eine Radschlosspistole, deren Lauf in einer gefährlichen Spitze endete, um für den Nahkampf gewappnet zu sein.
Marie schluckte. Sie musste es tun! Sie musste wissen, was diese geheimnisvolle Bruderschaft zu bedeuten hatte. Wieder drückte sie die Kirchentür auf, schlüpfte hindurch, verschloss sie lautlos hinter sich und huschte auf Zehenspitzen hinter eine der hohen Säulen, die das Kirchengewölbe hielten. Erst jetzt fühlte
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