Das Geheimnis des Nostradamus
hätte es sich ganz in sich selbst zurückgezogen.
Marie bestreute das geschlagene Eigelb mit Zucker und zerstoßenen Weizenkörnern und rührte noch eine Messerspitze Zimt mit ein paar Tropfen Rosen- und Minzöl darunter. Mit einer Holzpresse träufelte sie den süßen Saft einer ganzen Traube in das Getränk und vermischte alles gut.
»Hier, euer Kraftelixier«, sagte sie leise und reichte Nostradamus das Schälchen.
»Noch nicht«, antwortete er mit ruhiger Stimme. »Die Zutaten brauchen ihre Zeit, damit ihre Wirkstoffe einander begegnen. Sie müssen sich verbinden und verändern, bevor sie in den Körper gelangen. Alles braucht Zeit, alles braucht seine Zeit, um zu wachsen und zu werden… alles braucht Zeit!« Mit einem leisen Aufstöhnen legte er den Kopf auf seine verschränkten Unterarme.
Marie stellte die Schüssel vor das Küchenfenster und schaute hinunter auf die schmale Gasse, in die kaum Sonnenlicht fiel. Die weißen Hauben der Dienstmägde huschten wie helle Flecken über das Pflaster. Möwen hockten auf Häusergiebeln, um im geeigneten Moment herunterzuschießen und Nachlässigen mit ihren scharfen Raubtierschnäbeln ein Stück Brotkruste aus den Händen zu reißen. Im Kamin knackte das trockene Holz unter den auflodernden Flammen jetzt, als würden gedämpfte Schüsse abgefeuert. Marie zuckte jedes Mal zusammen. Und da waren sie wieder, diese Bilder: Lucies Aufschrei, das Zuschlagen der Holzkrücke, das wirbelnde Messer, der geduckte Wanderprediger, der sich blitzartig in der Menge verlor. Über alles breitete sich ein zersplittertes Bildnis von unendlich bleichen Lippen.
In diesem Moment hallte aufgeregtes Türschlagen durch das Treppenhaus. Jemand polterte mit drängenden Schritten die schmale Holztreppe hoch und riss die Eingangstür auf. Es war Monsieur Bandon, der mit einem versiegelten Brief winkte.
»Monsieur Nostradamus«, stieß er in seiner hohen Stimmlage hervor, während er nach Luft schnappte. »Ein Brief! Ein dringlicher Brief!«
Nostradamus wandte sich vom flackernden Kamin ab und ging auf den Apotheker zu. »Ist er an mich gerichtet?«
Monsieur Bandon hielt ihm mit seinen kurzen, fleischigen Fingern den Briefumschlag entgegen. Darauf war mit zierlicher, aber selbstbewusster Schrift seine Anschrift notiert.
»Und hier«, fuhr der Apotheker fort und drehte den Briefumschlag mit einer überschwänglichen Geste um. »Seht selbst!«
Nostradamus zögerte. »Das sind die Siegel der Krone…«
Der Apotheker nickte unentwegt. Sein ausgefranster Bart, in dem sich ein paar Brotkrumen verfangen hatten, wippte auf und ab. »Er wurde heute Morgen von einem reitenden Boten gebracht und unterliegt höchster Geheimhaltung«, hüstelte er, während die Äugelchen in seinem hochroten Gesicht eingeschüchtert auf das Schriftstück schauten. »Katharina von Medici, die Gemahlin des Königs…«
»Katharina von Medici?« Nostradamus fuhr sich erregt durch die Haare und räusperte sich. »Ein Brief von der Königin?«
Monsieur Bandon fächelte sich mit seiner Hand Luft zu und fuhr mit dem Zeigefinger unter seinen schweißnassen Stehkragen. »Sie bittet um medizinischen Beistand…«
»Sie ist doch nicht etwa erkrankt?« Nostradamus sah ihn bestürzt an, während Bandon seinen Kopf hin und her wiegte. Sein zerzaustes Haar sah im Gegenlicht des flackernden Kaminfeuers aus wie zottelige Schafswolle, die unbedingt geschoren werden musste. Jetzt wölbte er die Lippen trichterartig vor und wisperte Nostradamus zu: »Sie hat von Euren Weissagungen Kenntnis erhalten und bittet Euch zu Hofe. Außerdem fragt sie nach einem Mittel gegen… Unfruchtbarkeit.«
Michel schluckte. »Aber sie ist doch – wie man weiß – längst schon wieder in anderen Umständen…«
»Mag sein, dass sie an einer Zofe Eure medizinischen Fähigkeiten testen will.« Monsieur Bandon verschluckte sich und hustete keuchend, während er hervorstieß: »Kennt Ihr da nicht ein sicheres Mittel, das uns nicht zum Gespött des Hofes werden lässt?«
»Lasst mich überlegen…« Nostradamus fuhr sich langsam mit dem Zeigefinger über die zerfurchte Stirn, während Bandon die Hände faltete und flehentlich dem Firmament entgegenstreckte. »Mon Dieu! Steh uns bei! So mancher Medicus soll ja in tiefen Kerkern qualvoll verendet sein, nur weil heilende Rezepturen nicht wirken wollten.«
Nostradamus zog belustigt die Augenbrauen zusammen. »Keine Angst, Monsieur, wir haben ja nichts mit den Rezepten Isidors zu tun. Oder wollt Ihr etwa
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