Das Geheimnis des Nostradamus
Marktleuten davonwuselte. Wie betäubt lehnte sie sich an einen riesigen Topf aus Terrakotta, in dem roter Oleander blühte. Die Blüten schimmerten im Sonnenlicht wie riesige Blutstropfen.
»Ich danke Euch!« Marie lächelte dem zerlumpten Krüppel zu, der sich jetzt erschöpft auf seine Holzkrücken stützte.
»Nichts für ungut«, antwortete er mit einer sanften Stimme, die nicht in diesen verkrüppelten Körper zu passen schien. Die Wimpern an seinem linken Auge waren wohl abgebrannt, eine rosige Narbe zog sich breitflächig über seine Wange bis hoch zur Stirn.
»Ich habe nur die Geldstücke abgearbeitet, die Ihr mir zugesteckt habt.« Ein gequältes Lächeln lag auf seinem Gesicht.
»Habt Ihr das Gesicht des Mannes gesehen?«, fragte Marie verwirrt, während sie versuchte, sein Alter zu schätzen. Er mochte nicht mehr als zwanzig Lenze zählen.
Der Krüppel schüttelte den Kopf. Eine verklebte Haarsträhne fiel über die rosig glänzende Narbe. »Die Kapuze war zu tief ins Gesicht gezogen. Ich sah nur das Messer aufblitzen… aber einen Moment… Seine Lippen waren ungewöhnlich blass.«
Marie glaubte, eine eisige Hand hätte sich um ihren Hals gelegt, um ihr die Luft abzudrücken.
Die nächste Zeit war gezeichnet vom Rad des Schicksals, das sich unaufhörlich weiterdrehte. König Franz I. war inzwischen verstorben, sein Sohn Heinrich IL wurde sein Nachfolger und Katharina von Medici Königin von Frankreich. Der deutsche Kaiser Karl V. war der kriegerischen Auseinandersetzungen müde und zog sich immer mehr in seine Jagdschlösser zurück…
Eines Abends saß Nostradamus nicht wie gewöhnlich über seinen Studien, sondern zerriss Prophezeiungen, Zukunftstraktate und Astrologenschriften, die er stapelweise auf dem Markt eingesammelt hatte, und stopfte sie ins Feuer. Sofort fraßen sich lodernde Flammen durch das Papier, bis es sich nur noch glühend aufwölbte und zu Asche zerfiel.
»Diese verlogenen Astrologen, die das Volk mit ihren Aufzeichnungen zum Narren halten!« Seine Stimme klang äußerst verärgert. »Diese selbst ernannten Propheten, denen es nur um äußeren Ruhm und um Reichtum geht!«
»Aber Ihr übt doch selbst die Astrologie aus«, wandte Marie vorsichtig ein. Sie schaute kurz von dem Holztisch hoch, auf dem Töpfchen neben Tiegeln mit duftenden Ölen, wilden Kräutern und zerstampften Samen standen, und schlug ein Eigelb auf.
»Die astrologischen Berechnungen, die ich aufstelle, haben mit den lächerlichen Prognosen dieser Scharlatane nichts zu tun. Das sind Heuchler, Lügner, Pharisäer, die sich vor dem gemeinen Volk aufplustern wie schillernde Pfaue, um etwas Beifall zu erhaschen.«
Marie beobachtete, wie Nostradamus sich vor das heruntergebrannte Kaminfeuer kniete, um trockenes Holz nachzulegen. Er war sichtlich gelassener geworden.
Noch vor einiger Zeit wäre er wutentbrannt aufgesprungen, um seiner Empörung Luft zu schaffen. Hatte er wirklich seine wilde Leidenschaft zu zügeln gelernt? Um den Wege in die innere Ruhe zu finden, wie Diogenes, der sich in eine alte Tonne zurückgezogen hatte und dort lebte, um sich nur noch dem tiefgründigen Wissen und der Erkenntnis zuzuwenden? Nostradamus hatte ihr einmal von diesem griechischen Philosophen, der vor langer Zeit gelebt hatte, erzählt.
»Ihr meint, die meisten der Astrologen sind Betrüger?«, fragte Marie, während sie das Eigelb schaumig schlug.
»Keine der großen Wissenschaften ist für Gaunerei so empfänglich wie die Prophezeiung. Mit den übelsten Tricks wird versucht, dem dummgläubigen Volk ein paar Sous aus der Tasche zu ziehen.« Kopfschüttelnd schaute er in das aufflammende Feuer, dessen rötlicher Schein über sein Gesicht tanzte. »Ich betreibe die judicielle Astrologie, das hat mit der einfältigen, volksverdummenden Astrologie nichts zu tun. Sicherlich, es mag sogar eine Reihe von ernsthaften Astrologen geben, die es vermögen, tiefsinnige Berechnungen anzustellen. Aber dann ziehen sie Schlüsse, die aus ihrem eigenen fehlerhaften Geist erwachsen sind.«
Marie nickte nachdenklich. »Und dann sind auch die Prognosen fehlerhaft…«
»Genau! Ihnen fehlt die entscheidende Gabe, in den Raum vorzudringen, in dem die Zeit aufgehoben ist. Wo Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft zusammenfallen.«
»Aber wenn Ihr in diesen Teil des Universums schaut, in dem alles Wissen aufgezeichnet ist, bedeutet es doch, dass Ihr in göttliche Räume schaut…« Marie spürte ein unheimliches Frösteln auf der
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