Das Geheimnis des perfekten Tages (German Edition)
auch so ergangen. Ich hatte zwar keine traumatisierenden Entbehrungen in meiner Kindheit zu erleiden, auch lebe ich heute nicht in einer Dauerekstase, die man heute gerne mit den Worten „Saus und Braus“ umschreibt, aber die Sache mit dem Eierkocher trifft exakt auf mich zu. Vielleicht werden die nächsten Generationen von Eierkochern sogar einen eigenen Wasseranschluss haben, wie ein Dampfgarer. Dann ist auch die mühselige Ablesbarkeit der Wasserskala im Messbecher kein Thema mehr.
09 08
Ich wende mich wieder meinen Zeitungen zu. Das mag der jungen Generation, die sich, wenn überhaupt, über das Internet informiert, befremdlich erscheinen. Ich verstehe das. Auch ich informiere mich heute in erster Linie im World Wide Web, mag aber die Idee, im Zeitalter der allgegenwärtigen, Just-in-Time-Information, in der schon Stundenalte Meldungen die Aura des Antiken umweht, ein Medium anzubieten, das die Meldungen von gestern als aktuell verkauft. Das ist derartig verwegen, dass ich glaube, das Ganze durch meine Anteilnahme belohnen zu müssen.
Deshalb gehe ich nicht auf die Website der Zeitungen, sondern lese das E-Paper. Das ist ein Akt freiwilliger Beschränkung, denn ich habe ja ein Gerät, das ständig online ist, es also durch seine geradezu penetrante Anbindung an den Datenstrom jederzeit ermöglichen würde, schon einen Tag weiter zu sein. Ich aber sage: Das größte Privileg der Jetztzeit ist die Gestrigkeit! Sollen die anderen vorausschwimmen! Ich will mich wenigstens während des Frühstücks dem Mitschwimmen verweigern und rufe der steten Frage nach dem „Was ist da los?“ ein renitentes „Was war eigentlich gestern?“ entgegen!
Ich schlage eine weitere Zeitung auf. Kein Papier raschelt, mein Finger streift über die von Fingerabdrücken verschmierte Oberfläche meines Tablet-Computers und initiiert damit ein Umblättern, das keines ist. Eine Simulation!
Das ist Wahrheit heute! Die Simulation der Realität in der Zeitung wird im simulierten Raum des Userinterface zur Simulation der Simulation. Großartig. Und ganz ohne Druckerschwärze als Vorstufe zur Bleivergiftung. Ich liebe es.
Was war? Ein Minister hat sich verstrickt. Er spricht von einer Kampagne, will aber zurücktreten, um dem Amt keinen Schaden zuzufügen. Das ist wunderbar. Das Amt freut sich! Ein Auto hat sich um einen Baum gewickelt. Der Fahrer war betrunken, besaß keinen Führerschein, durfte allerdings auch noch gar keinen besitzen, weil er das vorgeschriebene Alter noch nicht erreicht hatte. Er wird es auch nicht mehr erreichen.
Die Welt der Zeitung ist voller Entsetzen. Da ist jeder zurückgetretene Minister eine vergleichsweise gute Nachricht.
Ein Kreuzfahrtschiff hat sich zur Seite geneigt und liegt nun am Strand einer romantischen Insel. Wie ist es dahin gekommen? Offenbar wollte der Kapitän zum Winken nah ans Land fahren, hat dabei aber vergessen, dass das Wasser zum Ufer hin flacher wird. Außerdem gibt es Riffe. Kein guter Ort zum Winken. Aber von Schiffen aus wird häufig gewinkt. Wenn das Schiff dabei kentert, kommt man winkend in die Zeitung.
Der Kapitän hat das Schiff als erster verlassen und die an Bord befindlichen Touristen ihrem Schicksal überlassen. Er behauptet, ins Rettungsboot gefallen zu sein. Natürlich hätte er gerne sein Leben aufs Spiel gesetzt, um zu helfen, doch das Schiff war gegen ihn. Wahrscheinlich hat sich das Schiff nur auf die Seite gelegt, um ihn zu ärgern. Man kennt das von Elefanten, die sich einer Dressurnummer verweigern. 34 Tote. Ansonsten eine echte Lachnummer. Man ist hin-und hergerissen zwischen Mitgefühl und erheiterter Fassungslosigkeit.
Im Durcheinander der Leichen und Schicksale fällt es oft schwer, den notwendigen Ernst zu bewahren. Dafür ist die Distanz zu groß. Die Zeitung wirkt wie eine Fernrohr, durch das man einen Film sieht.
Das Dorf, in dem der Kapitän aufgewachsen ist, ist empört, wie einer von ihnen durch die Medien diffamiert wird. Er sei immer ein guter Junge gewesen und als Kind schon einmal in ein Rettungsboot gefallen. Das käme vor. Er würde jetzt sicher auch gerne zurücktreten, um dem Amt keinen Schaden zuzufügen, ist aber leider schon festgenommen worden. Da der Mann Italiener ist, sieht man auf einemFoto stark gestikulierende Dorfbewohner. Sie sind wirklich wütend, die Frau vom Lebensmittelhandel, der Priester und der Schutzgeldeintreiber. Süditalien ist romantisch!
Wutbürger. Überall sind Wutbürger. In der einen Stadt ist eine
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