Das Geheimnis des Spiegelmachers (German Edition)
stehen und bat auch ihn nicht herein. Nik sah den Meister, der zwischen den jungen Männern hin und her ging und ihre Arbeit überwachte. Er würdigte den neuen Besucher keines Blickes.
»Acht Schilling.« Der Junge streckte Nik seine Hand entgegen.
»Ich habe noch nicht mit dem Meister gesprochen. Warum soll ich acht Schilling bezahlen?«
»Weil er sonst nicht mit dir redet. Hast du acht Schilling?«
Nik hatte sie nicht und würde auch in einem Jahr bei dem Wollhändler nicht so viel verdienen. Er beugte den Kopf zur Seite und spähte an dem Jungen vorbei in die Werkstatt. Langsam schob der Lehrling die Tür zu. Der Spalt wurde immer kleiner, und Niks Chance, die Kugel zu besorgen, die sein Vater sich sehnlichst wünschte, schwand beunruhigend schnell. Verzweifelt ballte Nik die Hände zu Fäusten und schob seinen Fuß über die Schwelle.
»Meister Harvey«, rief er. »Könnt Ihr Gesichter machen?«
Der Lehrling trat ihm mit Wucht auf den Stiefel. Nik schrie auf und zog seinen Fuß zurück. Im nächsten Moment krachte die Tür vor seiner Nase ins Schloss.
Nik drehte sich um und humpelte zu seinem Karren. Das Fenster des Glasers warf einen prächtigen bunten Schatten auf die Tuchballen, die er geladen hatte. Doch Nik konnte sich an dem Anblick nicht mehr erfreuen, denn sein Fuß schmerzte und ein Gespräch mit dem letzten Glaser war in so weite Ferne für ihn gerückt wie Benthe in Amsterdam.
Hinter ihm öffnete sich eine Tür und Nik drehte sich um. Der Schwarzhaarige steckte den Kopf nach draußen und sah ihn neugierig an.
»Gesichter?«, fragte er.
»Ja. Ich brauche eine Kugel mit einem Gesicht.« Hoffnung durchströmte Nik wie ein Krug warmen Würzweins, als er in das Gesicht des Meisters blickte.
Der Glaser runzelte die Stirn. »Ich stelle Kelche und Schalen mit Familienwappen her. Die besten in der Stadt. Mein Glas ist klar wie Regenwasser, gelb wie die Sonne oder rot wie die Lippen einer schönen Frau. Aber ich kenne kein Wappen, das ein Gesicht zeigt.«
»Habt Ihr schon einmal ein Gesicht gemacht?«, wollte Nik wissen.
Meister Harvey schüttelte den Kopf.
»Könnt Ihr mir eine Kugel machen und ein Gesicht hineinschnitzen?«, fragte Nik und ein letztes bisschen Hoffnung kribbelte in seinem Bauch.
»Nein, ich lege buntes Glas in feinen Fäden auf die Oberflächen und färbe sie koboldblau oder eisenrot, aber ich zerstöre sie nicht, indem ich sie zerkratze.« Seine Nase kräuselte sich angewidert, als hätte Nik ihm einen Eimer Schafdung unter die Nase gehalten.
Nik seufzte. »Kennt Ihr jemanden in London, der es kann?«
Harvey schüttelte den Kopf. »Es gab zwei Glaser in der Stadt, die sich darauf verstanden haben, aber ich habe lange nicht von ihnen gehört. Sie haben die Zunft verlassen und vielleicht auch London …«
Mit diesen Worten verschwand der Glaser in der Hitze seiner Werkstatt und die Tür blieb verschlossen.
Enttäuscht drehte Nik sich um und zog seinen Karren zurück zum Haus des Wollhändlers. Als er nur noch wenige Straßen von den Chadwicks entfernt war, fielen dicke Schneeflocken auf die rußgeschwärzten Dächer Londons. Dann hörte Nick Schreie am Ende der Gasse.
Ein Mann rannte auf ihn zu. Sein langer Mantel wehte hinter ihm her, und er sah aus wie eine zu dicke Möwe, die etwas Anlauf nahm, um in die Lüfte zu steigen. Doch der Mann erhob sich nicht über die Dächer der Stadt. Er kam immer näher. Die Hand hielt er fest auf die Brust gedrückt, wo sich sein Hemd wölbte. Die schweren Stiefel seiner Verfolger polterten über das Pflaster.
Als der Dieb bei Nik angekommen war, stolperte er, und seine Beute fiel auf den Boden. Zwei Brötchen kullerten über die schmutzige Straße. Flink erhob sich der Fremde und verschwand in einer schmalen Gasse, die im Schatten zwischen zwei Häusern versteckt lag. Nik starrte ihm hinterher und staunte über den verborgenen Weg, den er nie zuvor bemerkt hatte. Der erste Verfolger kam rutschend neben Nik zum Stehen. Der zweite sah das zu spät und versuchte im letzten Moment auszuweichen. Er ruderte mit den Armen, stolperte und riss Nik zu Boden. Der dritte krachte gegen den Karren.
Nik keuchte unter dem dicken Wächter, dessen Atem nach Alkohol roch. Er lag im stinkenden Unrat der Straße und sah, wie sein Karren kippte und das eine Rad immer näher kam. Der Wächter sprang mit einer Wendigkeit wieder auf die Beine, die Nik ihm nicht zugetraut hätte.
Er selbst hatte noch nicht einmal die Arme aufgestützt, als sein Wagen krachend
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