Das Geheimnis des Spiegelmachers (German Edition)
hatten. Er schien ein einfacher Junge mit groben Stiefeln zu sein, doch die Hosen waren mit gutem Leder geflickt.
Schließlich setzte Harvey seinen Namen unter die geschilderten Beobachtungen und rollte das Pergament zusammen.
Es gab nur einen Mann, dem er es geben konnte, weil er noch immer Kontakt zu dem inneren Kreis der Gilde hatte. Ihm schauderte bei dem Gedanken daran, John nachts zu treffen. Doch er musste ihn in der Dunkelheit aufsuchen, niemand durfte sie zusammen sehen. Seine Hände zitterten, als er den Brief versiegelte.
Er warf sich zwei seiner besten Mäntel über die Schultern, bevor er mit der Botschaft in die Dunkelheit trat.
Im Tageslicht waren keine Spuren der letzten Nacht auf dem Tuch zu entdecken. Erleichtert rollte Nik die Ballen auf und schaffte sie in das Lager.
Joseph erwähnte den Vorfall mit keinem Wort. Olivia hängte im Lagerraum Kräuter auf, als eine Schneiderin sich lautstark über den wunderbaren Duft der Tücher ausließ.
Nik verbrachte einige Tage in gespannter Erwartung. Als nach einer Woche kein böses Wort gefallen und keine Bestrafung verhängt wurde, konnte er sich an den gemeinsamen Mahlzeiten und Abenden wieder erfreuen.
Der Schnee fiel unaufhörlich und die Wege durch die Stadt wurden immer beschwerlicher. Doch dann kam der Tag, an dem er über die Themse laufen konnte.
Tag für Tag zog es Nik an den Fluss. Immer mehr kleine Eisschollen trieben unter den Brücken hindurch und prallten knirschend gegen die Schiffe, die noch im Hafen lagen. Am Ufer rutschten Möwen über das zugefrorene Wasser. Zwei Männer von der Stadtwache knieten einige Schritte vom Ufer entfernt auf dem Eis und bohrten eine Eisenstange hinein. Immer wieder tauchten Kinder mit Schlitten und Hunden auf und liefen grölend über den Fluss. An einem dunklen Nachmittag brach ein Mädchen durch das Eis und wurde von den Wächtern fluchend wieder aus dem Wasser gezogen. Sie zeterten und schimpften mit dem schlotternden Mädchen und ihren Freundinnen.
Nik hatte es sich seitdem zur Gewohnheit gemacht, an jedem Tag mehrmals am Ufer der Themse entlangzugehen und die Wächter zu beobachten. Sie vertrieben die Kinder und übermütige junge Burschen, bis sie an einem sonnigen Morgen verkündeten, das Eis sei nun dick genug für den Frostjahrmarkt.
Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer in der Stadt. Innerhalb weniger Stunden wurden die ersten Buden auf dem Fluss errichtet und unzählige Menschen vergnügten sich auf Schlitten oder in Kutschen auf dem Eis.
Als Nik die letzten Waren ausgeliefert hatte, drängte sich ein Meer bunter Zelte an beiden Ufern der Themse. Dazwischen ertönten das ausgelassene Gemurmel und der Gesang einer feiernden Stadt. Der Geruch gebratenen Fleisches stieg Nik in die Nase. Der kalte Winter und der Fluss hatten der Stadt einen fröhlichen Feiertag geschenkt und niemand dachte an diesem Abend mehr an Arbeit. Die Docks und die Werkstätten hinter ihm ruhten in stiller Dunkelheit und nur die Händler und Schausteller tummelten sich geschäftig auf dem Eis.
Als Nik den Karren zu den Chadwicks zurückgebracht hatte, konnte er es kaum erwarten, selbst das Eis zu betreten. Der Wollhändler gab ihm zwei Kupferpenny und wünschte ihm einen vergnüglichen Abend.
Wenig später betrat Nik die gefrorene Decke der Themse und tauchte in den frostigen Jahrmarkt ein. Kinder sausten auf Schlitten an ihm vorbei und die Frauen in den Buden priesen Leckereien und dampfende Getränke an. Nik schloss die Augen und roch Anis, Wacholder und Nelken. Endlich vertrieben Gewürze den malzigen Geruch von Kohle und verbranntem Holz, der ununterbrochen wie ein grauer Nebel über London hing. Eine Gruppe junger Männer tauchte hinter Nik auf und schob ihn zu einer kleinen gezimmerten Bühne, auf der ein Bär und ein junges Mädchen standen. Als das riesige Tier sein Maul aufriss und brüllte, wichen die jungen Männer in der ersten Reihe zurück. Die anderen lachten lauthals über ihre ängstlichen Freunde.
Nik spähte zwischen ihren Schultern auf die Bühne. Um das Bein des Bären waren Ketten gebunden, die klirrend auf die Holzbretter schlugen, wenn er sich bewegte. Das Mädchen stand dicht neben ihm. Sie trug dünne Kleider, die einen großen Teil ihrer Beine und ihren weißen Hals frei ließen, und hatte unzählige bunte Bänder in ihre langen blonden Haare geknüpft. Das Mädchen schlängelte sich anmutig um die gewaltigen Tatzen des braunen Riesen. Ihre Haarbänder flatterten im Wind, der eisig
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