Das Geheimnis des Spiegelmachers (German Edition)
Junge?«, fragte sie.
»Der Karren ist umgefallen. Ich habe versucht, den Stoff zu waschen.« Nik spürte, wie ihm die Erschöpfung Tränen in die Augen trieb.
Olivia zog ihn ins Haus und schob ihn zum Ofen.
Nik schluckte. Wenn Olivia weniger verständnisvoll gewesen wäre, hätte er seine Tränen besser verdrängen können.
Sie drehte sich zum Herd, als er mit dem Ärmel über seine Augen wischte, und stellte einen Becher warme Milch vor ihn auf den Tisch, bevor sie die Treppe hinaufstieg.
Nik legte die steifen Finger um den dampfenden Becher. Seine Füße kribbelten schmerzhaft, als die Wärme des Ofens durch die nassen Stiefel drang.
Olivia kam zurück und spannte ein Seil zwischen zwei Haken in der Wand.
»Zieh alles aus«, sagte sie und legte eine Decke und ein wollenes knielanges Hemd neben Nik auf die Küchenbank. Dann verschwand sie nach draußen.
Nik hatte Schwierigkeiten, die Schnüre mit seinen zitternden Fingern zu lösen. Schließlich gelang es ihm und er ließ die nassen Kleider auf den Boden fallen und streifte sich das trockene Hemd über den Kopf.
Olivia kam herein, als er sich gerade in die Decke einwickelte. Dann ließ er sich vor dem Becher nieder, trank in kleinen Schlucken und spürte, wie Arme und Beine schwerer wurden.
Olivia warf seine Kleidung über das Seil, goss dampfende Milch in seinen Becher und rührte ein rotes Pulver hinein. Nik trank, ohne nach dessen Namen oder seiner Wirkung zu fragen. Nachdem er auch den zweiten Becher geleert hatte, schleppte Olivia einen Ballen Tuch ins Haus.
Nik öffnete den Mund, doch seine Zunge war schwer und die Lippen gehorchten seinen trägen Gedanken nicht. Er war schrecklich müde und wollte für einen kleinen Augenblick die Augen schließen.
Als Nik sie wieder öffnete, war alles blau. Olivia hatte das Tuch entrollt und zum Trocknen aufgehängt. Eine Waschschüssel und eine grobe Bürste lagen auf dem Tisch. Die Frau des Wollhändlers hatte die schmutzigen Stellen herausgerieben, die seinen Bemühungen am Fluss getrotzt hatten. Das Wasser roch nach Lavendel und verschiedene Kräuter hingen zwischen den Stoffen verteilt. Olivia musste auch Kräuter in das Feuer geworfen haben, denn der ganze Raum duftete nach feuchtem Nadelwald. Nik stand auf und streifte die Decke von seinen Schultern.
Er war erfüllt von Zuneigung für die Frau, die ihm geholfen hatte, sein Missgeschick wiedergutzumachen.
Auch wenn er mit der schmutzigen stinkenden Stadt und ihren verworrenen Straßen keinen Frieden machen wollte, gab es nun etwas, wofür er in London dankbar war: Olivia.
An einem anderen Ort in London fiel buntes Licht auf die kalte Straße. Das Feuer in der Werkstatt von Meister Harvey ließ das Fensterbild des Glasers auf der Straße tanzen. Nur ein dunkler Schatten erhob sich reglos vor ihm. Der Meister saß mit einem Stück Pergament auf einem Hocker neben dem Ofen und kaute in Gedanken versunken auf dem Griffel seiner Feder.
Die letzten Monate waren ereignislos vergangen. Erst als er nicht mehr damit gerechnet hatte, war es nun doch geschehen. Jemand hatte nach Gustavs Arbeit gefragt. Es war nur ein Junge gewesen, ein ärmlicher Lehrling. Doch Harvey konnte nicht wissen, in wessen Auftrag er seine Fragen gestellt hatte.
Der Meister hörte das Holz des Griffels zwischen seinen Zähnen knacken und spuckte angewidert die Späne auf den Boden. Er zögerte kurz, doch er war nicht mutig genug, um die Vereinbarung zu brechen, die er mit dem Spiegelmacher getroffen hatte. Wenn Heinrich es von jemand anderem erfahren würde, wären seine Tage gezählt. Der Glaser wischte sich mit dem Ärmel über die feuchte Stirn. Heinrich hatte John Locke und einige andere Männer in der Stadt gelassen, die für ihn Augen und Ohren offen hielten und auf die Einhaltung seiner Anweisungen achteten. Niemand wusste, wie viele es waren und welchen Tätigkeiten sie in London nachgingen, um ihren Auftrag und die Verbindung zur Gilde zu verschleiern.
Harvey riss die Schnüre von seinem Hemd auf. Ihm war plötzlich zu warm und zu eng in der Werkstatt, die er sonst so innig liebte.
Der Meister tauchte die Feder in das Tintenfass. Kratzend schob er sie über das Papier. Immer wieder hielt er inne, um sich an Einzelheiten zu erinnern. Er stellte sich das Gesicht des Jungen vor, die Farbe seiner Augen und die Form seiner Nase und beschrieb sie genau. Die grobe Jacke musste von einem der Wollhändler stammen, die sich im Osten der Stadt in der Nähe des Flusses angesiedelt
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