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Das Geheimnis des Spiegelmachers (German Edition)

Das Geheimnis des Spiegelmachers (German Edition)

Titel: Das Geheimnis des Spiegelmachers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antoinette Lühmann
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hatte, zur Seite. Unter einem seidenen Tuch kamen sechs weitere Holzfiguren zum Vorschein. Eine war schöner als die andere. Nik beugte sich über die Kiste und betrachtete einen Priester in schwarzem Gewand, einen König und eine Prinzessin mit winzigen glänzenden Kronen. Die kleinen Finger einer Dienstmagd hielten einen Eimer und ein glatzköpfiger Gelehrter trug ein dickes Buch in den Händen. Den Narren konnte Nik fast kichern hören. Der Puppenspieler musste wirklich ein Meister im Schnitzen sein. Das Gesicht des Narren war so fröhlich, wie das der Stadtwache brummig wirkte.
    »Spielt Ihr auch mit den anderen?«, fragte Nik, ohne aufzusehen, und stellte sich vor, wie die Figuren zusammen auf der Bühne stritten, betrogen und lachten.
    »Nein, die schlafen«, sagte der Puppenspieler.
    Nik sah auf. Das Lächeln war aus dem Gesicht des Mannes verschwunden.
    »Warum?« Nik erkannte, welchen Kummer diese Frage dem Mann bereitete. Doch seine Neugier war geweckt, und er konnte den Mann und seine kleinen Freunde nicht verlassen, ohne es zu wissen.
    »Ihre Väter und Mütter sind tot«, sagte der Puppenspieler leise und betrachtete die hölzernen Kinder, die in der Kiste lagen, andächtig.
    »Was ist geschehen?« Nik hielt den Atem an.
    »Fieber und Beulen.«
    »Euch hat es nicht getroffen?«
    Der Puppenspieler zuckte zusammen, als hätte ihm Niks Frage körperlichen Schmerz bereitet. Er öffnete sein Hemd und zeigte Nik Schulter und Hals. Eine schlangenförmige Wunde hob sich in der Armbeuge dunkel von der hellen Haut ab. Am Hals waren braune Flecken zu sehen und kleine schwarze Punkte zogen sich über die linke Schulter. Nik beugte sich vor, um sie besser zu sehen. Ein scharfer Geruch stieg ihm in die Nase. Das Hemd des Puppenspielers roch nach Essig und Kampfer.

    »Wie seid Ihr gerettet worden?«
    »In einem Traum sah ich Beulen an meinem Körper, die sich bewegten. Ratten und anderes Ungeziefer, das sich in den Straßen herumtreibt, fraßen sich durch die Haut und krabbelten aus den Beulen heraus über meinen ganzen Körper. Als ich aufwachte, sah ich die Schlangenwunde.«
    Nik schauderte. Der Puppenspieler zeigte auf die Narbe an der Armbeuge und fuhr dann fort.
    »Mittags entdeckte ich die ersten Beulen. Ich hatte Todesangst. Auch die anderen bekamen Fieber. Mit meinem Schnitzmesser habe ich die Beulen aufgestochen und bis zum Abend mit den anderen gebetet. Am nächsten Tag waren alle tot, doch mein Fieber sank.«
    Nik schluckte.
    »Ich trage die kleinen Waisen mit mir herum.« Eine Träne lief aus den blauen Augen des Puppenspielers und zog eine helle nasse Spur über sein mit Kohle geschwärztes Gesicht.
    »Das ist traurig.« Nik sah die Gesichter seiner Brüder vor sich und die Trauer kam zurück und legte sich beklemmend schwer auf seine Brust.
    »Nein«, sagte der Puppenspieler und lächelte. »Nicht jeden Tag. Ab und zu erwecke ich sie aus ihrem Schlaf. Dann denke ich an die schöne Zeit, die wir zusammen hatten.«
    »Aber die vielen traurigen Tage …«, wandte Nik ein.
    »Ja«, antwortete der Puppenspieler, »die bleiben.« Er deckte die Puppen mit dem seidenen Tuch zu. Zärtlich strich er mit den Fingern darüber, bevor er die Kiste schloss. Dann sah er wieder auf.
    Nik dachte an die vielen Stunden, die er im Streit oder Spiel mit seinen Brüdern verbracht hatte. Ob er sich jemals an die gemeinsamen Tage erinnern konnte, ohne den Schmerz des Verlustes zu spüren? »Wie?«, wollte Nik wissen.
    Der Puppenspieler seufzte. »Niemand weiß, wie. Wir haben für einige Wochen in Plymouth im Haus einer alten Tante gewohnt. Wie jedes Jahr im Winter. Wir nähten Kleider, schrieben Stücke und arbeiteten mit Holz, bis neue Figuren entstanden.« Er starrte in die Flamme von einer der Fackeln, die vor seine Bühne standen.
    Das war keine Antwort auf die Frage, die Nik bewegte, doch er wagte nicht, sich bei dem Puppenspieler danach zu erkundigen, wie er die gemeinsame Zeit ohne Bitterkeit schätzen gelernt hatte.
    Etwas, das der Mann gesagt hatte, ließ ihn aufhorchen. Sie hatten Stoffe gekauft, um Kleider für die Puppen zu nähen. Das erinnerte ihn an das Gespräch, das er im Sommer in jenem Amsterdamer Keller belauscht hatte.
    »Bei welchem Händler habt Ihr die Stoffe gekauft?«, wollte Nik wissen.
    Der Puppenspieler runzelte die Stirn. »Warum interessiert dich das, Junge?«
    Nik antwortete nicht auf die Frage. »Habt Ihr die Tücher bei Flambert erworben?«
    »Ja, woher weißt du das?« Der Mann trat einen

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