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Das Geheimnis des Spiegelmachers (German Edition)

Das Geheimnis des Spiegelmachers (German Edition)

Titel: Das Geheimnis des Spiegelmachers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antoinette Lühmann
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Damit wischte sie Nik über die Wange. Es brannte wie Feuer und er biss die Zähne zusammen. Sie kippte einen großen Schluck aus der Flasche in den Becher und reichte ihn Nik.
    »Trink«, forderte sie ihn auf.
    Der scharfe Geruch stieg ihm in die Nase. Nik zögerte. Olivia saß abwartend mit Nadel und Faden in der Hand vor ihm. Nik wurde flau im Magen, doch er wusste nicht, ob es an dem stechenden Geruch lag oder an der Aussicht auf das, was jetzt kommen würde.
    Er griff nach dem Becher und nahm einen Schluck. Die Flüssigkeit brannte auf seinen rauen Lippen und Nik spürte sie kribbelnd seinen Hals hinablaufen. Die Übelkeit verging und es wurde warm in seinem Bauch.
    Olivias rosiges Gesicht glänzte im Schein des Feuers. Sie erwiderte sein Lächeln und beugte sich zu ihm herüber. Trotz des Winters roch sie nach Rosen und Lavendel. Dieser Duft erinnerte Nik an sein Zuhause in Amsterdam. Seine Mutter liebte Lavendel und hängte überall im Haus Zweige zum Trocknen auf, um den Gestank der Straße damit zu überdecken.
    Nik schloss die Augen und atmete die Erinnerung an den Sommer in Amsterdam tief ein.
    Dann spürte er den Schmerz in seiner Wange und öffnete wieder die Augen. Olivia war dicht vor seinem Gesicht und stach erneut mit der Nadel in seine Haut, mit der sie eben noch sein Hemd geflickt hatte. Nik sah sie mit offenem Mund an und wagte nicht, sich zu bewegen.
    Er musste die Augen offen lassen. Wenn er sie schloss, drehte sich alles in seinem Kopf, und er begann, auf seinem Stuhl zu schwanken, was ihm Olivias sanften Tadel einbrachte. Nik richtete den Blick auf die wulstigen Narben an seinen Händen und erinnerte sich an den Gestank der Salbe, mit der seine Schnitte in Amsterdam versorgt worden waren. Würde Olivia sein Gesicht für immer entstellen, oder wusste sie mehr über die Versorgung von Wunden als der Medikus, der in das Haus seiner Eltern gerufen worden war?
    Die Haustür ging auf, doch Nik rührte sich nicht. Er hörte Josephs schwere Stiefel. Der Wollhändler trat an den Tisch und musterte die beiden.
    »Er ist so ein hübscher Junge«, hörte Nik Olivias Stimme wie durch eine dicke Nebelwand. »Es wäre doch schade gewesen …«
    Joseph brummelte etwas und stellte Brot, Schinken und Bier auf den Tisch.
    Alles verschwamm vor Niks Augen. Das Gewicht seiner müden Lider wurde immer schwerer. Irgendwann öffnete er die Augen und sah die Decke über dem Bett in seiner kleinen Kammer unter dem Dach.
    Wie er dort hinaufgekommen war, wusste er nicht.
    Am nächsten Tag erreichte ein Brief von seiner Mutter das Haus des Wollhändlers. Nik wurde es schwer ums Herz und Heimweh fiel über ihn her wie ein hungriger Wolf. Helena van Leeuwenhoek berichtete nur vage von den Geschehnissen in Amsterdam. Sie sorgte sich stets darum, jemand könnte den Brief lesen und ihr so die Geschäfte verderben. Frans sei im Herbst an einer Lungenentzündung gestorben und Benthe habe das Haus verlassen und ihre Lehre begonnen. Sein Vater lasse grüßen und sie wünsche ihm Gesundheit und einen wachen Geist.
    Nik seufzte. Er nahm eine Feder aus seinem Koffer und setzte sich an den Tisch, um seiner Mutter zu antworten. Er wollte unbedingt wissen, was Benthe lernte und wo sie nun zu Hause war. Vielleicht konnte er ihre Adresse in Erfahrung bringen, um ihr von dem Mann zu schreiben, der auf dem Dorfplatz gehängt worden war. Doch sie würde jemanden bitten müssen, ihn ihr vorzulesen. Buchstaben waren ihr ein ewiges Rätsel geblieben.
    Nik versuchte, sich auszumalen, was geschähe, wenn seine Eltern erfahren würden, was ihn auch viele Seemeilen von Amsterdam entfernt beschäftigte. Daraufhin verwarf er sein Vorhaben und schrieb nur eine höfliche Antwort an seine Eltern. Von seinen vergeblichen Versuchen, den Glaser zu finden, erwähnte er nichts. Nik brachte es nicht über das Herz, seinen Vater zu enttäuschen.
    Der Brief seiner Mutter hatte alte Erinnerungen geweckt und Nik schlief unruhig. Er wälzte sich in seinem Bett hin und her und träumte von der Nacht in dem Keller und von seinen kleinen Brüdern, die in den Lagerhäusern spielten. Immer wieder stahl sich der Erhängte, den er an seinem ersten Tag in London gesehen hatte, in diese Träume. Er erschien im Keller in Amsterdam oder jagte ihn zusammen mit Luuk durch die Straßen der Stadt.
    Die täglichen Wege durch London gehörten inzwischen zu Niks Alltag wie einst das Warenbuch seines Vaters. Er kannte die meisten Straßen der Stadt und konnte die Himmelsrichtungen

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