Das Geheimnis des Spiegelmachers (German Edition)
Wunde heraustropfte. Er trat vor den Wagen und zog ihn keuchend ein Stück weiter. Das Mädchen wirkte heute noch hagerer als bei ihrer letzten Begegnung auf dem Jahrmarkt, dennoch würde er sie nicht weit ziehen können. Nach ein paar Metern entdeckte er zwischen den Häusern Holztüren, die schief in ihren Angeln hingen. Nik stieß sie auf und schob den Karren in den unbewohnten Hinterhof.
»Sie sind weg«, flüsterte er, als die Schritte und Rufe der Männer verklungen waren.
Das Mädchen kletterte langsam zwischen den Säcken hervor. Sie blickte sich nach allen Seiten um, bevor sie von dem Wagen herunterstieg. Dann schob sie Tuch und Säcke wieder an ihren Platz und sah Nik an. Sie zog die Augenbrauen zusammen und musterte ihn abwartend.
Nik wusste nicht, was er sagen sollte. Ihr Blick war vorwurfsvoll, obwohl er ihr gerade die Hände, wenn nicht sogar das Leben, gerettet hatte.
»Was hast du gestohlen?«, fragte er, als er die anklagende Stille nicht mehr ertragen konnte.
Das Mädchen griff in ihr Hemd und zog ein Stück Käse heraus.
»Käse?«, fragte Nik ungläubig. »Du hast Käse gestohlen?«
Sie nickte und schaffte es dabei, auf ihn herabzusehen, obwohl er einen Kopf größer war als sie und noch nie ein Verbrechen begangen hatte. Dann steckte sie die Beute wieder ein und ließ ihn dabei das Messer sehen, das mit einem Lederband um ihre Hüfte geschnürt war. Es war so lang wie sein Unterarm. Nik versuchte, sich seinen Schrecken nicht anmerken zu lassen.
»Wer bist du?«, fragte er, aber sie antwortete nicht.
Sie drehte sich um, stieß ohne ein Wort des Dankes die marode Tür zur Straße auf und verschwand.
Nik wischte sich wieder über die Wange, die immer noch blutete. Keinen Dank und keine Entschuldigung hatte das Mädchen für ihn übrig gehabt. Wütend ballte er die Fäuste. Er hatte versucht zu helfen und dafür würde ihm eine Narbe bleiben, die ihn immer an diese Schmach erinnerte. Er hob den Karren an und stapfte zurück zu dem Haus des Wollhändlers.
Als er die Waren verstaut und den Karren in den Verschlag im Hinterhof geschoben hatte, betrat Nik die warme Küche der Chadwicks. Olivia saß mit roten Wangen vor dem Ofen und flickte sein Hemd. Es war an den Oberarmen und den Schultern gerissen, als Nik gestern den Karren beladen hatte.
Sie sah kurz auf und lächelte. »Deine Schultern sind breiter geworden. Joseph lässt dich viele schwere Dinge tragen. Ich werde dir bald ein neues Hemd nähen müssen.«
Nik trat zu ihr und setzte sich neben sie. Olivia ließ das Hemd auf ihren Schoß fallen. Sie legte ihre warme weiche Hand unter sein Kinn und drehte sein Gesicht in das Licht des Feuers.
Nachdem sie die Verletzung auf Niks Wange eine Weile betrachtet hatte, stand sie wortlos auf und holte eine kleine Schale mit Wasser. Dann tauchte sie ein Stück Tuch hinein und wusch die Wunde vorsichtig aus.
»Wie ist es passiert?«, fragte sie.
Nik staunte zum wiederholten Male über die Ruhe, mit der Olivia und Joseph ihm begegneten. Seine Mutter hätte ihn zuerst verhört und dann seine Wunde versorgt.
»Sie haben einen Dieb verfolgt und ich stand im Weg.« Er zuckte mit den Achseln.
Sie hielt kurz inne und lehnte sich zurück, um ihn zu mustern. »Sonst ist dir nichts passiert?«, fragte sie mit der gleichen freundlichen Stimme, ohne eine Spur des Vorwurfs.
Nik schüttelte den Kopf und fragte sich, warum es in diesem Haus keine Kinder gab. Olivia war die wunderbarste Mutter, die sich ein Junge oder ein Mädchen wünschen konnte.
Als Olivia das Tuch zur Seite legte, stand er auf.
»Setz dich wieder«, hielt sie ihn zurück. »Die Schramme ist tief und lang. Sie wird nicht gut verheilen.«
Nik setzte sich und wartete. Er sah auf seine Hände. Jeder Schnitt, den die Scherben ihm in jener Nacht in Amsterdam in die Haut gerissen hatten, hatte sich in eine dicke Narbe verwandelt. Er wollte kein Wundpflaster in seinem Gesicht haben, das in der Nacht juckte und ihm wulstige Narben bescherte.
Olivia holte ein Stoffsäckchen, das hinter einem Krug Mehl verborgen war, und schüttelte den Inhalt auf den Tisch.
Nik sah mit wachsendem Interesse zu, wie sie eine Kerze anzündete und die Nadel in die Flamme hielt. Als sie etwas abgekühlt war, wischte sie mit einem Tuch den Ruß ab und fädelte einen Seidenfaden in das winzige Loch an ihrem Ende.
Sie stellte einen Becher und eine Flasche auf den Tisch, dann zog sie den Holzstopfen aus der Öffnung und tröpfelte etwas daraus auf ein weißes Tuch.
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