Das Geheimnis des Spiegelmachers (German Edition)
beherrscht und forsch wie an dem Tag, als er sie kennengelernt hatte.
»Heinrich hat eine ganze Werkstatt mit Spiegeln, die wir als Beweis vorlegen könnten«, erwiderte Nik und zögerte einen Augenblick. Wie konnte er den beiden seine Angst und seine Schuldgefühle verdeutlichen? »Mein Vater hat nur eine Kugel, und wenn er sie verliert …« Er wünschte, er könnte so sachlich und kühl über seine Gefühle sprechen wie Ellie. Nik wandte sich an Benthe. »Du weißt, wie er war. So ist er nicht mehr. Es ist wieder Leben in ihm, aber wenn wir ihm die Kugel nehmen …«
Die Mädchen sahen einander an und hoben stumm die Schultern. Benthe nickte, und Ellie öffnete einen kleinen Beutel, den sie an ihrem Gürtel trug. Sie schüttelte verschiedene kleine Eisenhaken auf die Säcke, die einzeln in Tuchstücke gewickelt waren, damit sie nicht bei jedem Schritt des Mädchens aneinanderschlugen. Nik hatte sie nie zuvor gesehen, doch er ahnte, wofür sie benutzt wurden. Mit ihnen machte sich Ellie an verschlossenen Türen oder Fenstern zu schaffen und diese kleinen Haken würden ihnen auch den Weg in die Werkstatt des Spiegelmachers öffnen.
Als sie vor der Werkstatt standen, schlug in der Ferne die Uhrenglocke eines Kirchturms. Nik war nicht sicher, ob er die Schläge richtig gezählt hatte. Vor Aufregung klopfte sein Herz wie wild. Der Mann, der das Leid und den Tod unzähliger Menschen verursacht hatte, wohnte hinter diesen Mauern. Vielleicht trug er auch die Schuld am Tod seiner Brüder. Schließlich hatte es sich im Keller so angehört, als wäre er der Anführer der Gilde.
Benthe lehnte mit dem Rücken an einem Baum am Ufer der Gracht und hielt sich die Seiten. Schnaufend sog sie die kühle Nachtluft ein.
Ellie trat an das Fenster. Sie fischte einen Metallspan aus ihrem Beutel und schob ihn zwischen das Glas und den Rahmen. Mit einem leisen Klicken öffnete sie den Riegel und drückte die Scheibe zur Seite. Nik staunte über ihr Geschick und die Lautlosigkeit, mit der sie sich bewegte. Er stellte sich neben sie und starrte in das Innere des Hauses. Es war finster und außer einigen dunklen Schatten konnte er nichts erkennen.
Benthe drängte sich zwischen sie. » Ich sollte das erledigen.«
»Warum?« Nik und Ellie drehten sich zu ihr um.
»Ich kenne mich in der Werkstatt aus. Ihr würdet Spiegel und Gefäße mit Zutaten umstoßen und durch den Lärm das ganze Haus wecken. Ich weiß, wo die fertigen Kunstwerke aufbewahrt werden. Ich hole einen kleinen Spiegel und bin gleich wieder draußen.« Benthe gähnte und lehnte sich an die Hauswand.
Nik zögerte. Er wollte sie nicht allein gehen lassen. »Aber …«
Benthe winkte ab. Sie ließ seine Einwände nicht gelten und griff mit ihren weißen Händen nach dem Fensterbrett.
Nik trat hinter sie und umfasste ihre Taille. Er hob sie ein Stück hinauf und sie zog sich durch das Fenster und kletterte in die Werkstatt.
Nik und Ellie hockten vor dem Fenster und warteten. Es blieb still im Haus. Nach einigen Augenblicken sahen sie ein kleines Licht in einem der oberen Fenster aufflackern.
Benthe zuckte zusammen, als sie den Lichtschein sah. Sie duckte sich hinter einen Werktisch. Jemand kam die Treppe hinunter und trug eine Kerze vor sich her. Benthe hielt den Atem an. Es war nicht ihr Meister, dessen schwere Stiefel über die hölzernen Stufen polterten. Diese Schritte klangen, als streife jemand barfuß durch das Haus. Vielleicht hatte sie Glück und niemand entdeckte sie. Das Licht kam näher. Wenn es eines der Mädchen war, ließ es Benthe womöglich entwischen. Glänzend rote Schuhe tapsten auf sie zu und blieben eine Armlänge vor ihren eigenen nackten Füßen stehen. Die Hand, die das Licht hielt, senkte sich herab und verharrte zwischen den Gesichtern der beiden. Die Frauen erkannten einander gleichzeitig.
Benthe keuchte. »Was macht Ihr hier?«
»Warum bist du nicht in deinem Bett?« Carmen de Witt stand vor ihr und funkelte sie wütend an. Ihr langes Kleid war unordentlich zugeknöpft und ihre Haare hatten sich aus der sorgfältig gesteckten Frisur gelöst und hingen in ihr Gesicht.
Mitten in der Nacht stand die Frau des Stadtregenten im Haus des Spiegelmachers. Das konnte nur eines bedeuten. Benthe starrte auf den Fußboden. Vielleicht kam sie ohne Strafe davon, wenn sie so tat, als wäre sie eben aus dem Bett gekommen.
»Ich laufe manchmal nachts durch das Haus … im Schlaf …«, stotterte sie.
Carmen nickte. Aber sie kniff die Augen zusammen und
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