Das Geheimnis des Templers - Episode VI: Mitten ins Herz (German Edition)
Bratac beim Auflesen der Scherben immer wieder wie zufällig die Hände des Schotten berührte.
Dabei galt ihr Augenmerk die ganze Zeit über Struans markantem Gesicht. Der Schotte jedoch schien ihre offensichtliche Bewunderung für ihn in der ihm eigenen, rauen Art entweder nicht zu bemerken oder nicht bemerken zu wollen.
»Mademoiselle«, sagte Gero und räusperte sich, um die Aufmerksamkeit der schönen Kaufmannstochter zu erlangen, die nach wie vor wie gebannt jede Regung des schottischen Templers verfolgte.
»Danke, ich kann das schon allein erledigen.« Ohne zu ihm aufzublicken, nahm sie Gero Eimer und Besen aus der Hand. Merkwürdigerweise wirkte sie kein bisschen unglücklich über den Vorfall, und Gero hätte schwören mögen, dass sie ihr Missgeschick keineswegs bereute.
An jenem Tag Ende April im Jahre des Herrn 1307 hatte Struan den ganzen Morgen über mit sich gehadert, ob er der Aufforderung auf dem abgegriffenen Zettel folgen sollte – obwohl er sich damit der Gefahr aussetzte, eine Dummheit zu begehen. Nicht irgendeine Dummheit, sondern eine, die in nur einem Augenblick das Leben eines rechtschaffenen Templers in das eines Geächteten verwandeln konnte. Er dachte an seine Brüder, an Gero, Johan, Francesco und den lästerlichen Arnaud, und was sie wohl dazu sagen würden, falls sie je von seinen unkeuschen Gedanken erfahren würden und davon, wie weit er sich von den Regeln entfernte, mit dem, was er vorhatte zu tun.
Dabei musste er höllisch aufpassen, seit mit Guy de Gislingham ein Erzfeind aus England ins Dormitorium eingezogen war, der ihn auf Schritt und Tritt als dreckigen Schotten beleidigte und sicher gerne sähe, wenn er vor dem Ordenskapitel in Ungnade fiel.
Doch die Botschaft, die diese ganz und gar nicht harmlosen Zeilen enthielten, war zu verlockend, um sie einfach ignorieren zu können. Insgesamt drei dieser hastig geschriebenen Schriftstücke, mehrfach gefaltet und mit verschiedenen Mitteilungen versehen, hatte Struan unter dem Siegel der Verschwiegenheit von seiner heimlichen Verehrerin entgegengenommen. Nur den letzten Zettel hatte er aufbewahrt und nicht wie die anderen rasch dem Feuer überlassen. Er erschien ihm zu kostbar, und so trug er ihn sicher und vor den neugierigen Blicken seiner Kameraden geschützt in der Tasche seiner weißen Chlamys, jenes legendären Umhangs, der aus einem gewöhnlichen Ordensbruder einen Templer auf Lebenszeit machte.
Nie zuvor hatte Struan einen solchen Brief bekommen. Genau genommen, war es das erste Mal, dass ihm überhaupt jemand geschrieben hatte. Die Templerregel besagte, Briefe, die ein Mönchskrieger erhielt, ganz gleich, ob von einem Verwandten oder im Dienste des Ordens, waren unverzüglich der Ordensleitung vorzulegen. Im vorliegenden Fall also hätte er Henri d’Our, seinen Komtur, aufsuchen müssen, um ihm eine entsprechende Mitteilung zu machen. Tat er es nicht und wurde erwischt, hatte er mit einer harten Strafe zu rechnen. Doch das Schreiben, das Struan bei sich trug und das nun zwischen seinen Fingern knisterte, würde d’Our nicht zu Gesicht bekommen. Es war denkbar ungeeignet, um es überhaupt irgendjemandem zu zeigen.
Allein der Inhalt dieser wagemutigen Depesche verriet den Verfasser – eine Frau. Nicht irgendeine Frau, sondern Amelie Bratac, die Tochter des Wein-und Geschirrhändlers, die sich wundersamerweise für ihn interessierte, ihn begehrte, ihn wollte. Jedenfalls schrieb sie das.
Heimlich hatte sie ihm ihre Briefe zugesteckt und ihm dafür regelrecht aufgelauert. Wie eine Katze auf Samtpfoten war sie an ihn herangeschlichen, als er nach einem stillen Gebet aus der Kapelle ins Freie getreten und ohne Gero und die anderen über den Hof gegangen war. Oder als er allein in den Stallungen seinen Hengst mit einer Extraration Hafer versorgt hatte. Sogar nach dem Besuch der Latrine hatte sie eines Tages unvermittelt vor ihm gestanden und ihm den Weg ins Freie versperrt. Nachdem er ihre Botschaften angenommen hatte, war sie einfach davongegangen. Ohne Erklärung, wie ein flüchtiger Geist.
Als sie das erste Mal unvermittelt vor ihm stand, war ihm beinah der Schreck in die Glieder gefahren, was ihm peinlich war und ihn inbrünstig hoffen ließ, dass sie es nicht bemerkt hatte. Ihre Schönheit nahm nicht nur ihm den Atem. Auch die meisten anderen Brüder waren von ihrem Anblick fasziniert, was ihn ein wenig beruhigte und auch wieder nicht, weil er der Einzige zu sein schien, der diesen Reizen nicht widerstehen konnte.
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