Das Geheimnis des Viscounts
grüne. Das Grüne ist zwar größer, aber das blaue ist viel wärmer. Im Grünen zieht es", vertraute sie Melisande an und schüttelte sich. „Und nicht vergessen: Punkt sieben."
Jasper, der wohlweislich noch sitzen geblieben war und in aller Ruhe seine Muffins verzehrt hatte, erhob sich. „Keine Sorge, Tante. Um Punkt sieben werden wir wieder unten sein, sauber und adrett und zu allen Schandtaten bereit."
„Wunderbar!", freute sich seine Tante.
Melisande lächelte nur, denn vermutlich käme sie sowieso nicht zu Wort, und folgte dem Mädchen nach draußen.
„Oh, beinahe hätte ich es vergessen", rief Tante Esther. „Ich habe doch noch ein Paar eingeladen."
Melisande und Jasper drehten sich höflich um, um auch den Namen dieser Gäste zu hören.
„Mr Timothy Holden und seine Frau, Lady Caroline." Tante Esther strahlte übers ganze Gesicht. „Bevor sie hierher gezogen sind, haben sie in London gelebt, und ich dachte mir, das wäre eine schöne Überraschung für euch. Und Mr Holden ist ein richtig flotter Gentleman. Vielleicht kennt ihr ihn ja sogar?"
Und darauf wusste Melisande beim besten Willen nicht, was sie erwidern sollte.
Irgendetwas stimmt nicht mit Melisande, dachte Jasper später am Abend. Sie saß am unteren Ende der Speisetafel, zwischen dem netten Mr Flowers und dem pedantisch-pünktlichen Sir Angus, welcher bereits beim dritten Glas redselig machenden Weins angelangt war. Melisande trug ein dunkelbraunes Kleid, dessen Oberteil und Ärmel mit kleinen grünen Blumen und Blättern bestickt waren. Schön sah sie aus, das blasse, ovale Gesicht freundlich und gelassen, das hellbraune Haar locker aufgesteckt. Wahrscheinlich bemerkte niemand außer ihm ihr Unbehagen.
Er nippte an seinem Wein und beobachtete seine Gemahlin, die eine Bemerkung von Mrs Flowers mit einem verhaltenen Lächeln bedachte. Vielleicht machte die Gesellschaft so vieler unbekannter Menschen sie befangen. Er wusste, welch schüchternes und zurückhaltendes Geschöpf seine Frau war, ein richtiges Feenwesen eben. Sie mochte keinen Trubel, keine Menschenmengen, hielt sich nicht gern auf Geselligkeiten auf. Somit war sie das genaue Gegenteil von Jasper, doch er konnte es verstehen, auch wenn er selbst niemals so sein würde. Er war ihre steife Zurückhaltung gewohnt, wenn sie gemeinsam ausgingen.
Aber diesmal schien ihr Unbehagen einen anderen Grund zu haben. Irgendetwas stimmte nicht, und es beunruhigte ihn, dass er nicht wusste, was los war.
Es war eine ausgesprochen angenehme Runde. Tante Esthers Köchin war fabelhaft, und die Tischgesellschaft somit sehr erfreut. Das schmale Speisezimmer war dezent beleuchtet und strahlte Behaglichkeit aus. Die Lakaien waren beflissen und geizten nicht mit dem Wein. Zu seiner Rechten saß Miss Stewart, eine Frau fortgeschrittenen Alters, mit rot gepuderten Wangen und einer üppigen, grau gepuderten Perücke. Jedes Mal, wenn sie sich Jasper zuneigte, wurde er in eine Wolke betörenden Patschulis gehüllt.
„Wie ich höre, sind Sie gerade erst aus London gekommen?", erkundigte sie sich.
„Ganz recht, Ma'am", erwiderte Jasper. „Über Berg und Tal sind wir geeilt, um rasch das lieblich-sonnige Edinburgh zu erreichen."
„Seien Sie froh, dass Sie nicht im Winter gekommen sind", gab sie zurück. „Nach dem ersten Schnee ist hier kein Durchkommen mehr, wenngleich die Stadt im Winter auch sehr schön ist — schöner fast, wenn Dreck und Ruß unter einer dicken Schneeschicht verschwunden sind. Haben Sie sich schon das Schloss angeschaut?"
„Leider nein."
„Das sollten Sie, das sollten Sie." Miss Stewart nickte so eifrig, dass ihre Kinnfalten erbebten. „Großartig. Die meisten Engländer wissen die Schönheit Schottlands nicht zu schätzen."
Anscheinend schloss sie auch ihn damit ein, wenn er ihren vorwurfsvollen Blick richtig deutete.
Rasch schluckte Jasper einen Bissen des exzellenten Lammbratens herunter, den seine Tante hatte auftischen lassen. „Gewiss. Meine Gemahlin und ich waren schon während der Reise sehr von der Landschaft beeindruckt."
„Das will ich wohl meinen", triumphierte sie. „Die Holdens sind vor bald zehn Jahren hergezogen, und nicht einen Tag haben sie es bereut. Nicht wahr, Mr Holden?", wandte sie sich an besagten Gentleman, der ihr gegenübersaß.
Timothy Holden sah umwerfend gut aus — wenn man eine Schwäche für Männer mit zarten, flaumigen Wangen und roten Lippen hatte, was, den bewundernden Blicken bei Tisch nach zu urteilen, bei den meisten
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