Das Geheimnis des Viscounts
ins Haus, das anlässlich ihrer dritten Vermählung von Grund auf renoviert worden war. „Neuer Mann, neues Haus", verkündete sie an Melisande gewandt.
Jasper grinste nur.
Es war ein schönes Haus. Hoch auf einem von Edinburghs zahlreichen Hängen gelegen, war es aus hellem Sandstein erbaut und hatte klare, klassische Formen. Im Innern des Hauses bevorzugte Tante Esther weißen Marmor und schwarzweiß geflieste Böden.
„Hier entlang", rief sie, als sie ihnen vorauseilte. „Mr Whippering freut sich ja schon so sehr darauf, euch beide kennenzulernen!"
Sie rauschte in einen Salon, dessen Wände in tiefem Rot gehalten waren. Zu beiden Seiten des in schwarzes Emaille und Gold gefassten Kamins hingen riesige Früchtestillleben. Auf einem ebenfalls dunkelroten Sofa saß ein Mann, der so groß und hager war, dass er Ähnlichkeit mit einem knorrigen Spazierstock hatte. Er hatte einen gebutterten Muffin in der Hand, den er auf halbem Wege zu seinem Mund verharren ließ, als sie den Salon betraten.
Mit flatternden gelben Röcken eilte Tante Esther auf ihn zu. „ Keine Muffins, Mr Whippering! Sie wissen doch, dass sie Ihrer Verdauung nicht bekommen."
Der arme Mann gab sich geschlagen, stand auf und ließ die Vorstellungen über sich ergehen. Er war sogar noch größer als Jasper, doch längst keine so stattliche Erscheinung. Sein Rock hing ihm schlaff um die Schultern. Aber er schien sehr nett zu sein, und als er sie beide über den Rand seiner halbrunden Augengläser hinweg musterte, lächelte er gutmütig.
„Das ist Mr Horatio Whippering, mein Gatte", verkündete Tante Esther stolz.
Mr Whippering verneigte sich vor Jasper und beugte sich dann über Melisandes Hand. Mit einem verschmitzten Funkeln in den Augen sah er zu ihr hoch.
Nachdem die Formalitäten geschafft waren, ließ Tante Esther sich aufs Sofa plumpsen. „Setzt euch, setzt euch", rief sie. „Jetzt müsst ihr mir erst einmal alles über eure Reise erzählen."
„Wir sind von Straßenräubern überfallen worden", kam Jasper ihrer Bitte dann auch freundlicherweise nach.
Melisande sah ihn an und hob eine Braue, doch er zwinkerte ihr zu.
„Nein!" Tante Esthers Augen wurden kugelrund, und sie wandte sich an ihren Gatten. „Hast du das gehört, Mr Whippering? Straßenräuber haben meinen Neffen und seine Gemahlin überfallen! Ist das zu fassen?" Kopfschüttelnd goss sie den Tee ein. „Nun, ich will hoffen, ihr habt sie vergrault."
„Eine meiner leichteren Übungen", gab Jasper sich bescheiden. „Sie können sich glücklich schätzen, einen so starken und
mutigen Mann zu haben", ließ Tante Esther Melisande wissen. Melisande lächelte und mied Jaspers Blick, um nicht laut zu lachen.
„Solche Leute sollte man an den Strick knüpfen, wirklich wahr", fuhr die Tante fort, während sie Jasper und Melisande ihre Tassen reichte, und auch ihrem Gatten, der allerdings ermahnt wurde: „Und keine Sahne — denk daran, was sie mit deiner Verdauung anstellt, mein Lieber." Dann lehnte sie sich mit einem Teller Muffins auf dem Schoß zurück und beschied: „Mein lieber Neffe, ich bin doch recht empört."
„Warum das, liebe Tante?", erkundigte sich Jasper. Er hatte sich den größten Muffin genommen, biss herzhaft hinein und krümelte sein Hemd voll.
„Na ja, diese überstürzte Heirat. Also, ich muss schon sagen ... Es gibt wahrlich keinen Grund zu so unziemlicher Eile, es sei denn ...", sie beäugte die Eheleute scharf, „... es gibt einen Grund?"
Melisande blinzelte kurz, dann schüttelte sie den Kopf.
„Nein? Warum dann die Eile? Ich hatte gerade erst Nachricht erhalten, dass du mal wieder die Verlobte gewechselt hättest, und mit der nächsten Post ... es war doch mit der nächsten Post, nicht wahr, Mr Whippering?", fragte sie ihren Gatten. Der nickte, sichtlich vertraut mit seiner Rolle bei ihren Monologen. „Genau, das dachte ich mir doch", fuhr Tante Esther fort. „Also, wie gesagt, gleich mit der nächsten Post kam dann ein Brief, in dem deine Mutter mir mitteilte, dass du geheiratet hättest. Mir blieb ja nicht mal Zeit, mir ein passendes Hochzeitsgeschenk zu überlegen, geschweige denn eine Reise nach London zu planen, und da frage ich mich schon, warum so überstürzt heiraten? Mr Whippering hat drei Jahre um mich geworben, nicht wahr, Mr Whippering?"
Ein pflichtschuldiges Nicken.
„Und selbst da habe ich ihn noch einmal weitere neun Monate warten lassen, damit wir vor der Hochzeit eine angemessene Verlobungszeit hatten. Ich kann mir
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