Das Geheimnis des Viscounts
Dankbarkeit um den Hals fallen, doch dann besann sie sich eines Besseren und wedelte nur ganz aufgeregt mit den Händen in der Luft herum. „Oh! Oh, danke, Ma'am! Oh, danke, danke, vielen Dank. Sie werden es nicht bereuen, wirklich nicht. Ich werde die beste Kammerzofe werden, die Sie sich nur wünschen können, das verspreche ich Ihnen!"
„Dessen bin ich mir gewiss." Melisande öffnete die Tür wieder. „Morgen können wir deine neue Aufgabe ausführlicher besprechen. Gute Nacht.”
„Ja, Ma'am. Danke, Ma'am. Gute Nacht, Ma'am."
Sally knickste hinaus in den Korridor, machte eine halbe Drehung, knickste noch einmal und knickste noch immer, als Melisande die Tür schloss.
„Scheint doch ein ganz nettes Mädchen zu sein", meinte sie zu Mouse.
Mouse schnaubte nur und sprang wieder aufs Bett.
Melisande gab ihm einen kleinen Klaps auf die Nase und trat an ihre Kommode. Eine schlichte Tabaksdose stand darauf. Kurz strich sie mit den Fingerspitzen über den zerbeulten Deckel, dann holte sie den Knopf hervor, den sie in ihrem Ärmel versteckt hatte, und betrachtete ihn. Das eingravierte V schien ihr im flackernden Kerzenlicht zuzuzwinkern.
Sie liebte Jasper Renshaw seit sechs langen, endlos langen Jahren. Es musste kurz nach seiner Rückkehr nach England gewesen sein, dass sie jene Gesellschaft besucht hatte, bei der sie ihm begegnet war. Er hatte sie nicht bemerkt, natürlich nicht. Als sie einander vorgestellt worden waren, waren seine blaugrünen Augen über sie hinweggeglitten, und gleich darauf hatte er sich entschuldigt und mit Mrs Redd geflirtet, einer nicht nur ihrer Schönheit wegen berüchtigten Witwe. Melisande hatte sich zu einigen alten Damen gesetzt und ihn von fern beobachtet. Lachend hatte er den Kopf zurückgeworfen, den langen, starken Hals gebogen, den Mund in ausgelassener Heiterkeit aufgerissen. Sein Anblick hatte sie gefesselt, aber sie würde ihn wohl als einen nutzlos-frivolen Adelsspross abgetan haben, wäre sie nicht einige Stunden später Zeugin einer ganz anderen Szene geworden.
Es war nach Mitternacht und sie war der Feierlichkeiten längst müde gewesen. Tatsächlich wäre sie am liebsten nach Hause gegangen, hätte sie damit ihrer Freundin Lady Emeline nicht den Spaß verdorben. Emeline hatte sie geradezu gedrängt, auf den Ball zu gehen, denn obwohl das Zerwürfnis mit Timothy schon über ein Jahr her war, befand sich Melisande noch immer in betrübter Stimmung. Doch der Lärm, die Hitze, das dichte Gedränge, die vielen fremden Blicke waren ihr unerträglich geworden, und so hatte Melisande sich schließlich aus dem Ballsaal einen Korridor hinabgeflüchtet. Eigentlich wollte sie den Ruheraum für Damen aufsuchen, bis sie auf einmal Männerstimmen hörte. Spätestens da hätte sie umkehren sollen, aber einer der Männer sprach mit so erregter Stimme, ja, schien gar zu weinen , dass ihre Neugier die Oberhand gewann. Vorsichtig spähte sie um die Ecke und wurde Zeugin einer ... nun ja, einer Szene.
Ein junger Mann, den sie nie zuvor gesehen hatte, lehnte am Ende des Korridors an der Wand. Er trug eine weiße Perücke, sein Gesicht war glatt und blass, von den erhitzten Wangen abgesehen. Er sah gut aus, doch hatte er den Kopf zurückgeworfen, die Augen geschlossen, bodenlose Verzweiflung stand ihm ins schöne Gesicht geschrieben. Mit einer Hand hielt er eine fast leere Flasche Wein umklammert. Neben ihm stand Lord Vale — doch schien es ein gänzlich anderer Vale zu sein als der, den sie im Ballsaal drei Stunden lang beim Lachen und Flirten beobachtet hatte. Dieser ernstere, reifere Vale hörte still zu und schwieg.
Ließ den anderen sich ausweinen.
„Früher haben sie mich nur in meinen Träumen heimgesucht, Vale", schluchzte der junge Mann. „Jetzt tauchen sie sogar am helllichten Tag auf. Ich sehe ein Gesicht in der Menge und denke, es wäre ein Franzose oder einer von den Wilden, der meinen Skalp will. Ich weiß, dass es nicht sein kann, aber ich traue meinem Verstand nicht. Letzte Woche habe ich meinen Kammerdiener zu Boden geschlagen, nur weil er plötzlich hinter mir stand und ich mich so erschrocken habe. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich weiß nicht, wo das noch enden soll. Ich komme nicht mehr zur Ruhe!"
„Schsch", murmelte Vale besänftigend, fast wie eine Mutter, die ihr Kind zu trösten versuchte. Seine Augen blickten traurig, seine Miene war voller Kummer. „Es geht vorüber, ganz gewiss. Es wird vorübergehen."
„Woher wollen Sie das wissen?"
„Weil
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