Das Geheimnis des Viscounts
nichts auszumachen. Vielmehr hatte sie einen ihrer molligen Arme um den Hals des Gentleman geschlungen. Sally legte den Kopf schief. Der Gentleman sah mit seinen komisch behaarten Beinen fast wie ein Ziegenbock aus, und kleine Hörner sprossen ihm aus dem Kopf. Wenn sie jetzt ganz genau hinsah, meinte sie gar eine gewisse Ähnlichkeit zwischen der garstigen Figur und dem Kammerdiener Seiner Lordschaft auszumachen — mal angenommen, Mr Pynch hätte Haare auf dem Kopf, Hörner und fellige Flanken. Ihr Blick schweifte tiefer. Ob Mr Pynch dann wohl auch so einen langen ...
Ein Mann räusperte sich hinter ihr.
Erschrocken fuhr Sally herum. Hinter ihr stand ausgerechnet Mr Pynch, als hätte sie ihn mit ihren unziemlichen Gedanken herbeigelockt. Er hatte eine Braue gehoben, was ihn wieder ganz furchtbar überheblich aussehen ließ. Sein kahler Schädel schimmerte matt im trüben Licht des Korridors.
Sie spürte, wie ihr die Schamesröte den Hals hinaufkroch, und stemmte umso energischer die Hände in die Hüften. „Herrje, haben Sie mir aber einen Schrecken eingejagt! Wissen Sie eigentlich, dass einen da der Schlag treffen kann? Ich kannte mal eine Dame, die ist tot umgefallen, weil ein dummer Junge sich an sie rangepirscht und laut ,Huu!' geschrien hat. Ich könnte jetzt mausetot hier auf dem Teppich liegen! Und was würden Sie eigentlich Mylord sagen, wenn Sie mich gleich am Tag nach seiner Hochzeit umgebracht hätten? Da säßen Sie aber tüchtig in der Patsche."
Mr Pynch räusperte sich abermals. „Wären Sie nicht so in die Betrachtung dieses Kunstwerks versunken gewesen, Miss Suchlike ..."
Sally schnaubte entrüstet, was ganz und gar nicht damenhaft, der Situation aber durchaus angemessen war. „Wollen Sie etwa behaupten, dass ich die Statue angeschaut hätte, Mr Pynch?"
Nun hob der Kammerdiener beide Brauen. „Ich wollte nur ..."
„Nur dass Sie es wissen: Ich habe mich vergewissert, dass kein Staub darauf ist."
„Staub?"
„Staub." Sally deutete vage hinter sich. „Mylady kann Staub nicht ertragen."
„Verstehe", sagte Mr Pynch hochmütig wie immer. „Ich werde es mir merken."
„Das will ich wohl hoffen", gab Sally zurück. Sie zog ihre Schürze straff und blickte dann unschlüssig zur Tür ihrer Herrin. Es war bereits acht Uhr, was für Lady Vale recht spät war, aber am Tag nach der Hochzeit ...
Mr Pynch beobachtete sie noch immer. „An Ihrer Stelle würde ich klopfen."
Sie verdrehte die Augen. „Ich weiß sehr gut selbst, wie ich meine Herrin wecke."
„Wo ist dann das Problem?"
„Vielleicht ist sie ja nicht allein." Wieder schoss ihr das Blut heiß in die Wangen. „Sie wissen schon. Was, wenn er bei ihr ist? Schön dumm ständ' ich da, wenn ich einfach so reinmarschieren würde und die beiden ..." Sally holte tief Luft und versuchte, ihre Zunge im Zaum zu halten. „Das wäre sehr peinlich."
„Ist er nicht."
„Was ist er nicht?"
„Bei ihr", sagte Mr Pynch mit einer Gewissheit, die sie abermals erzürnte, und verschwand im Zimmer seines Herrn.
Sally starrte ihm finster hinterher. Welch grässlicher Mann! Sie zog sich noch einmal die Schürze, zurecht, dann klopfte sie forsch an die Tür ihrer Herrin.
Melisande saß längst am Schreibtisch und war gerade dabei, das letzte der Märchen zu übersetzen, als es an der Tür klopfte. Mouse, der zu ihren Füßen gelegen hatte, sprang auf und knurrte.
„Herein", rief sie und war nicht überrascht, als Sally vorsichtig ins Zimmer spähte.
Melisande warf einen Blick zu der Porzellanuhr auf dem Kaminsims. Es war kurz nach acht, doch sie war schon seit über zwei Stunden auf. Sie wachte meist bei Tagesanbruch auf. Sally wusste das und kam für gewöhnlich früher, um sie anzukleiden. Wahrscheinlich hatte Melisandes neuer Ehestand das Mädchen in Verlegenheit gestürzt. Was völlig unangebracht war. Wie demütigend, hier allein am Schreibtisch zu sitzen! Bald wüsste das ganze Haus, dass sie in ihrer Hochzeitsnacht von ihrem Mann getrennt geschlafen hatte. Nun, das ließ sich nicht ändern. Sollten sie denken, was sie wollten, sie würde es schon durchstehen.
„Guten Morgen, Mylady!" Sally beäugte Mouse argwöhnisch und machte einen großen Bogen um den Terrier.
„Guten Morgen. Komm her, Mouse." Melisande schnippte mit den Fingern.
Mouse bedachte das Mädchen mit einem ungnädigen Schnauben, dann wetzte er zurück unter den Schreibtisch und ließ sich wieder zu Melisandes Füßen nieder.
Die Vorhänge des Fensters beim Schreibtisch
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