Das Geheimnis des Viscounts
ausgestreckten Armen von sich und entfernte sich in den hinteren Teil des Hauses.
„Zum Frühstückszimmer geht es hier entlang", ließ Oaks wissen.
Durch einen eleganten Salon führte er sie in einen Raum mit Blick auf den Garten. Melisande schaute zum Fenster hinaus und sah Mouse jeden Strauch markieren, der ihm vor die Pfoten kam. Der Lakai folgte ihm dicht auf den Fersen.
„Hier pflegt der Viscount mit Gästen zu frühstücken", sagte Oaks. „Wenn Sie andere Arrangements treffen wollen, lassen Sie es mich einfach wissen."
„Oh nein, es ist sehr schön hier. Danke, Oaks." Sie lächelte und setzte sich auf den Stuhl, den er ihr zurechtrückte, an die lange, blank polierte Holztafel.
„Die Köchin versteht sich ganz hervorragend auf pochierte Eier”, erklärte Oaks. „Aber wenn Sie lieber Hering oder ..."
„Pochierte Eier wären wunderbar, Oaks. Außerdem hätte ich gern ein oder zwei süße Brötchen und etwas heiße Schokolade."
Er verbeugte sich. „Ich werde gleich ein Mädchen damit hinaufschicken."
Melisande räusperte sich. „Nein, einen Moment noch bitte. Ich würde doch lieber auf meinen Mann warten."
Oaks blinzelte. „Der Viscount pflegt spät aufzustehen ..."
„Ich würde trotzdem gern warten."
„Jawohl, Mylady." Und damit entfernte sich Oaks.
Melisande sah Mouse zu, wie er sein morgendliches Geschäft verrichtete und zufrieden zurück zum Haus trottete. Kurz darauf erschien er mit dem Lakaien an der Tür des Frühstückszimmers. Als er sie sah, spitze er die kleinen Ohren und rannte zu ihr, leckte ihr die Hand und ließ sich mit einem wohligen Seufzer unter ihrem Stuhl nieder.
„Danke." Melisande lächelte den Lakaien an. Er war wirklich noch sehr jung, das Gesicht unter der weißen Perücke von Pickeln übersät. „Wie ist dein Name?"
„Sprat, Mylady." Er errötete heftig.
Melisande nickte. „Schön, Sprat. Von nun an bist du für Sir Mouse zuständig. Er muss jeden Morgen in den Garten geführt werden, dann noch einmal um die Mittagszeit und ein letztes Mal vor dem Schlafengehen. Könntest du das einrichten?"
„Jawohl, Mylady." Sprat machte eine ruckartige Verbeugung. „Danke, Mylady."
Melisande musste sich ein Lächeln verkneifen. Sprat machte nicht gerade den Eindruck, als sei er für die neue Aufgabe dankbar. Unter ihrem Stuhl ließ Mouse ein leises Knurren verlauten. „Danke, das wäre alles."
Sprat entfernte sich, und Melisande war wieder allein. Einen kurzen Augenblick saß sie einfach nur still da, doch derart untätig zu sein machte sie nervös. Unruhig stand sie auf und ging vor den Fenstern auf und ab. Wie sollte sie ihrem Gatten gegenübertreten? Vermutlich mit der freundlichen Gelassenheit, die einer Viscountess würdig war. Aber gab es wohl eine Möglichkeit, ihm vorsichtig, taktvoll, diskret zu verstehen zu geben, dass die letzte Nacht gelinde gesagt eine Enttäuschung gewesen war? Melisande zuckte schon allein bei der Vorstellung zurück. Vielleicht sollte sie dieses Thema besser nicht beim Frühstück ansprechen. Gentlemen konnten in dieser Hinsicht bekanntlich recht empfindlich sein, und viele waren früh am Morgen noch nicht bester Verfassung. Aber irgendwann, irgendwie würde sie den Punkt zur Sprache bringen müssen. Himmelherrgott noch mal, der Mann war immerhin ein berühmtberüchtigter Liebhaber! Wenn nicht jede Dame, die das Objekt seiner Begierde gewesen war, gelogen hatte, musste er zu weitaus Besserem imstande sein, als dem, was er letzte Nacht geboten hatte.
Irgendwo im Haus schlug es neun Uhr. Mouse stand auf, streckte sich und gähnte, dass seine kleine rosa Zunge sich aufrollte. Mit einem leisen Anflug der Enttäuschung gab Melisande das Warten auf und trat hinaus in die Halle. Sprat stand da, den Blick recht ausdruckslos an die Decke gerichtet, wenngleich er ihn rasch wieder senkte, als er sie kommen sah.
„Bitte bring mein Frühstück", sagte Melisande und kehrte zurück ins Frühstückszimmer, um zu warten. War Jasper bereits aus dem Haus gegangen, oder schlief er immer so lang?
Nachdem sie ihr Frühstück in trauter Zweisamkeit mit Mouse geteilt hatte, beschloss Melisande, sich anderen Dingen zuzuwenden. Sie ließ nach der Köchin schicken und zog sich in einen hübschen, in Weiß und Gelb gehaltenen Salon zurück, um den Speiseplan der kommenden Woche zu besprechen.
Die Köchin war eine kleine, drahtige Frau, das Gesicht hager und von Sorgenfalten zerfurcht, das ergrauende schwarze Haar zu einem straffen Knoten
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