Das Geheimnis des Viscounts
Blume!
„Du warst ein ruhiges Kind", sagte er, denn er wusste, dass, es so war.
Trotz der Geschichten, die er gestern von ihrer Tante gehört hatte, wusste er, dass sie ein ruhiges, zurückhaltendes Kind gewesen sein musste. Ein stilles Kind. Sie hielt mit ihren Worten an sich, mit ihren Gefühlen und allen Regungen. Ihre Bewegungen waren beherrscht, trotz ihrer Größe war sie unauffällig, leicht zu übersehen. Nie erhob sie die Stimme, sprach stets sanft und ruhig, und in Gesellschaft hielt sie sich zurück. Was war in ihrer Kindheit geschehen, dass sie so darauf bedacht schien, nicht aufzufallen?
Er neigte sich ihr näher zu. Obwohl sie von lieblichem Rosenduft umfangen waren, konnte er den würzigen Geruch bitterer Orangen ausmachen. Ihren Duft. „Du warst ein Kind, das seine innersten Wünsche und Gedanken vor der Welt verborgen hat."
„Woher willst du das wissen? Du kennst mich doch gar nicht."
„Nein”, gab er zu. „Aber ich will dich kennenlernen. Ich will dich so gut verstehen, bis dein Denken mir so vertraut ist wie mein eigenes."
Sie holte tief Luft und wich fast furchtsam zurück. „Ich werde nicht ..."
Doch er legte ihr den Finger an die Lippen, nahm ihn gleich wieder fort und setzte sich auf. Auf dem Weg, den sie gerade gekommen waren, nahten Stimmen heran. Und im nächsten Moment schon bog ein weiteres Paar um die Ecke.
„Oh, verzeihen Sie", entschuldigte sich der Gentleman just in dem Augenblick, als Jasper ihn als Matthew Horn erkannte. „Vale", sagte dieser überrascht. „Mit Ihnen hätte ich hier nicht gerechnet."
Jasper verneigte sich mit leiser Ironie. „Ich habe es seit jeher lehrreich gefunden, mich im Garten meiner Mutter zu ergehen. So habe ich meiner Gattin eben erst den Unterschied zwischen einer Pfingstrose und einer Schwertlilie erläutern können."
Hinter sich vernahm er einen Laut, der durchaus ein leises Schnauben sein mochte.
Matthews Augen weiteten sich. „Dann ist das also Ihre Frau?"
„Allerdings." Jasper drehte sich um und begegnete Melisandes unergründlichem Blick. „Liebes dürfte ich dir Matthew Horn vorstellen, einst wie ich Offizier im achtundzwanzigsten Regiment. Horn, meine Gattin, Lady Vale."
Melisande reichte ihm die Hand, Matthew Horn ergriff sie und beugte sich darüber. Alles ganz sittsam und anständig, aber dennoch hatte Jasper das Gefühl, seine Hand auf Melisandes Schulter legen zu müssen, damit kein Zweifel daran blieb, wessen Frau sie war.
Matthew trat zurück. „Dürfte ich Ihnen Miss Beatrice Corning vorstellen? Miss Corning, Lord und Lady Vale."
Jasper beugte sich seinerseits über die Hand der reizenden Begleiterin und musste sich ein Lächeln verkneifen. Das dürfte erklären, was Matthew hier machte. Seine Beweggründe waren den seinen ganz ähnlich. Er war hinter einer Frau her.
„Leben Sie in London, Miss Corning?", erkundigte er sich höflich.
„Nein, Mylord", erwiderte sie. „Gewöhnlich lebe ich bei meinem Onkel auf dem Land. Wahrscheinlich kennen Sie ihn, denn meines Wissens sind wir Nachbarn. Er ist der Earl of Blanchard."
Das Mädchen sagte noch irgendetwas anderes, doch Jasper hörte es nicht mehr. Blanchard war Reynauds Titel gewesen — der, den er beim Tod seines Vaters hätte erben sollen. Nur dass er da längst tot gewesen war. Bei Spinner's Falls von den Wyandot gefangen genommen und grausam dahingemetzelt.
Jasper richtete seinen Blick auf die junge Frau und betrachtete sie zum ersten Mal genauer. Sie plauderte mit Melisande, ihre Miene offen und ehrlich. Sie wirkte frisch und unverdorben, eine Unschuld vom Lande, ihr Haar weizenfarben, ihre Augen ein sanftes Grau, auf den Wangen winzige Sommersprossen. Obwohl sie keinen eigenen Titel hatte, wagte Matthew sich reichlich hoch hinaus, sollte er sie denn ernstlich hofieren. Die Horns waren eine alte Familie, trugen jedoch keinen Titel. Die Linie der Blanchards hingegen reichte Jahrhunderte zurück, ihr Stammsitz war ein weitläufiges, feudales Anwesen. Hatte das Mädchen nicht eben gesagt, dass es für gewöhnlich dort lebte?
In Reynauds Zuhause.
Jasper spürte, wie sich ihm die Brust zusammenschnürte, und er wandte den Blick von Miss Cornings Gesicht. Das Mädchen traf keine Schuld. Als Reynaud vor sechs Jahren am Flammenkreuz gestorben war, hatte es vermutlich noch die Schulbank gedrückt. Die junge Dame konnte ja nichts dafür, dass ihr Onkel den Titel geerbt hatte. Oder dass sie nun auf dem Anwesen lebte, das Reynauds Geburtsrecht gewesen war.
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