Das Geheimnis des Viscounts
der einen oder anderen kokett kichernden Dame umgeben. Schöne, selbstsichere Menschen, die sich ihrer Stellung in der Welt absolut gewiss waren. Wie konnte sie sich anmaßen, zu ihnen zu stoßen? Würden diese Menschen sie nicht nach einem einzigen Blick mit einem verächtlichen Lachen abtun?
Gerade wollte sie sich umdrehen und in die Stille ihrer Kutsche flüchten, als eine der Damen, eine schöne Blondine mit rot gepuderten Wangen und einem üppigen Busen, ihre Hand auf seinen Arm legte. Melisande erkannte sie. Es war Mrs Redd, Jaspers einstige Geliebte.
Lord Vale war ihr Gatte, ihr Geliebter, ihre Liebe . Melisande ballte die Hände zu Fäusten und marschierte entschlossen auf die Gruppe zu.
Auf halbem Weg zu ihm bemerkte Jasper sie und hielt inne. Sie begegnete seinem Blick, seinen hinter der schwarzen Halbmaske blau glänzenden Augen, und bannte ihn mit dem ihren. Auf einmal schienen die anderen Gäste zurückzuweichen, teilte sich die Menge vor Melisande, bis sie direkt vor ihm stand.
„Ist das nicht unser Tanz, Mylord?", fragte sie mit vor Aufregung rauer Stimme.
„Seid gegrüßt, liebe Gemahlin." Er verbeugte sich vor ihr. „Verzeiht mir meine unverzeihliche Vergesslichkeit."
Er bot ihr seinen Arm, und sie triumphierte still, dass er die andere so bereitwillig stehen ließ. Schweigend geleitete er sie durch die Menge. Jede Regung seiner Muskeln konnte sie spüren, als ihre Hand auf seinem Arm lag. Seine Nähe raubte ihr den Atem. Auf der Tanzfläche angelangt, nahmen sie ihre Plätze ein. Er verneigte sich, sie knickste. Dann machten sie ein paar Schritte aufeinander zu, trennten sich wieder, doch sein Blick ruhte die ganze Zeit auf ihr.
Als der Tanz sie erneut zusammenbrachte, sagte er leise: „Ich hatte nicht zu hoffen gewagt, dich hier zu sehen."
„Nein?" Hinter ihrer Maske hob sie die Brauen.
„Du scheinst dem Tag hold zu sein."
„Bin ich das?"
Sie wurden wieder getrennt, was ihr Zeit gab, über seine wunderlichen Worte nachzusinnen. Als sie wieder aufeinandertrafen, legte sie ihre Handfläche an seine, während sie im Halbkreis schritten. „Vielleicht verwechselst du Gunst mit Gewohnheit."
Seine Augen blitzten hinter der Maske auf. „Inwiefern?"
„Meine Geselligkeit beschränkt sich auf den Tag, du bevorzugst die Nacht — aber das heißt nicht, dass du der Nacht mehr zugetan wärst als dem Tag oder ich dem Tag mehr als der Nacht."
Eine steile Falte grub sich zwischen seine Brauen.
„Vielleicht", flüsterte sie, „vergnügst du dich lieber nachts, weil du es so gewohnt bist, liebst aber insgeheim den Tag."
Fragend neigte er den Kopf, als sie nebeneinander herschritten. „Und du, liebste Gemahlin?"
„Vielleicht ist mein Reich ja in Wahrheit die Nacht.”
Sie glitten auseinander und folgten eine Weile den Figuren des Tanzes, bis sie wieder zusammenfanden und die Berührung seiner Hand sie wohlig erschauern ließ.
Er lächelte, als wisse er genau, was er mit ihr anstellte. „Und was würdest du mit mir tun, meine Herrin der Nacht?" Sie umschritten einander, berührten sich nur an den Fingerspitzen. „Würdest du mir den Weg weisen? Mich führen? Oder mich verführen? Mich das Wissen der Nacht lehren?"
Sie trennten sich, tauchten inmitten der Tanzenden ein, doch sie ließ ihn nicht einen Moment aus den Augen, deren grünblauer Glanz sie fesselte. Als er wieder zu ihr stieß, neigte er sich zu ihr und flüsterte: „Sag, meine Schöne, würdest du es wagen, einen Sünder wie mich zu verführen?"
Ihr Atem flog rasch dahin, das Herz flatterte ihr in der Brust, frohlockte in freudiger Erregung, doch ihre Miene war ruhig und gefasst. „Ist das wirklich die Frage?"
„Welche Frage wäre dir lieber?"
„Würdest du dich von mir verführen lassen?"
Als der Tanz ein Ende fand und die Musik verstummte, blieben sie stehen. Melisande sah ihm noch immer in die Augen, sank zu einem Knicks nieder und erhob sich wieder, wobei sie ihren Gatten nicht aus den Augen ließ.
Er nahm ihre Hand, hauchte einen Kuss darauf und murmelte: „Oh ja, das würde ich."
Sowie er sie von der Tanzfläche führte, fanden sie sich von Gesellschaft umringt.
Ein Mann in rotem Kapuzenmantel pirschte sich an Melisande heran. „Wer ist dieses göttliche Geschöpf, Vale?"
„Meine Frau", erwiderte der leichthin und manövrierte Melisande auf die andere Seite. „Und ich wäre Ihnen sehr verbunden, Fowler, wenn Sie dies stets in Erinnerung behalten."
Fowler lachte trunken, und jemand anderes machte eine
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