Das Geheimnis des Viscounts
zerstört worden. Kästen und Gläser wurden zerschlagen, die über Jahre gesammelten Exemplare zertreten. Alles kaputt."
„Oh nein, wie furchtbar! Der arme Mann. Das muss entsetzlich für ihn gewesen sein, als er gesehen hat, was mit seiner Sammlung geschehen ist."
Keine Erwiderung von der anderen Seite der Kutsche.
„Jasper?", fragte sie und wünschte, sie könnte sein Gesicht erkennen.
"Er hat es nicht gesehen." Seine Stimme klang schroff im Dunkel. „Munroe ... Nun, er ist nie an den Ort des Massakers zurückgekehrt. Ebenso wenig wie ich. Ich habe erst Monate später erfahren, was mit dem Koffer geschehen ist."
„Das tut mir so leid." Melisande wandte sich ab und starrte blicklos ins Dunkel hinaus. Sie wusste nicht einmal, um was es ihr leidtat — um den Koffer, die verlorenen Schätze, das Massaker, oder um die beiden Männer, die zwar überlebt, aber nie wieder sein sollten, wie sie einst gewesen waren. „Wie sieht er denn aus?", fragte sie. „Ist er alt? Jung?"
„Ein bisschen älter als ich vielleicht." Jasper zögerte. „Du solltest aber wissen ..."
Doch sie unterbrach ihn. „Sieh nur!" Ihr war, als hätte sie draußen jemanden gesehen.
Dann zerriss ein Schuss die Nacht. Melisande zuckte zusammen. Sally fuhr mit einem kleinen Schrei aus dem Schlaf, und Mouse war im Nu auf den Beinen und bellte.
Von draußen ertönte eine laute, raue Stimme: „Stehen bleiben und alle aussteigen!"
Ruckelnd blieb die Kutsche stehen.
„Verdammt", fluchte Jasper.
Genau darum hatte Jasper sich seit Einbruch der Dämmerung gesorgt. Sie fanden sich mitten in einer für Straßenräuber berüchtigten Gegend und gaben ein prächtiges Ziel ab. Der Verlust seiner Geldbörse kümmerte ihn weniger, aber er wollte verdammt sein, wenn Melisande etwas geschah.
„Was ...?", setzte sie an, doch flugs legte er ihr die Hand auf den Mund. Klug und besonnen, wie sie war, verstand sie sofort, zog Mouse auf ihren Schoß und hielt ihm die Schnauze zu.
Die kleine Kammerzofe hatte sich die Faust an den Mund gedrückt und die Augen weit aufgerissen. Schreckensstarr saß sie da und gab keinen Laut von sich, aber Jasper hob dennoch kurz den Finger an die Lippen, wenngleich er bezweifelte, dass die beiden Frauen ihn im Dunkel der Kutsche überhaupt sehen konnten.
Warum hat der Kutscher den Pferden nicht einfach ordentlich die Peitsche gegeben? sann Jasper nach, während er seine Möglichkeiten erwog. Andererseits kannte der arme Mann das Gelände ja nicht. Wahrscheinlich hatte er Angst gehabt, die Kutsche im Dunkeln in den Graben zu setzen und sie alle umzubringen.
„Los, rauskommen!", rief ein zweiter Räuber.
Es waren also mindestens zwei, vermutlich aber mehr. Er selbst konnte mit zwei Lakaien aufwarten, zwei Kutschern, dazu zwei Mann zu Pferde, einer davon Pynch. Sechs Mann also. Aber gegen wie viele Räuber?
„He hört ihr nicht? Aussteigen!", brüllte der Zweite wieder. Einer würde den Kutscher mit einer Waffe bedrohen, damit er nicht davonfuhr. Ein weiterer dürfte die Reiter abgefangen haben. Einem Dritten fiele es zu, sie ihrer Wertsachen zu entledigen, woraus folgte, dass es mindestens drei waren. Das wäre zu schaffen. Aber wenn es mehr waren ...
„Verdammt! Raus mit euch, oder ich komm rein, und dann knallt's!"
Melisandes Mädchen entfuhr ein ersticktes Stöhnen; Mouse zappelte wild auf Melisandes Schoß, doch Jaspers unerschrockene Gemahlin hielt den Hund unerbittlich in ihrem Griff. Kein Laut kam ihr über die Lippen. Gewiefte Räuber würden die Diener einen nach dem anderen umlegen, aber wenn sie Glück hatten, war diese Bande ja dumm genug ...
Der Schlag wurde aufgerissen, und ein Mann mit Pistole beugte sich herein. Jasper packte ihn beim Arm. Ein Schuss löste sich und durchschlug das gegenüberliegende Kutschenfenster. Die Zofe kreischte. Der Räuber stolperte und fiel vornüber in den Wagen. Jasper entwand ihm die Pistole.
„Nicht hinschauen", sagte er zu Melisande und hieb dem Mann den Kolben über den Schädel, dass das Schläfenbein zertrümmerte. Rasch schlug er noch einmal zu, und dann noch einmal. Fünfmal insgesamt, hart und heftig, nur um sicherzugehen, dass der Halunke auch wirklich tot war, dann ließ er die Pistole fallen. Schusswaffen waren ihm zuwider.
Von draußen kam ein Schrei, dann ein Schuss.
„Runter mit euch", wies er Melisande und das Mädchen an. Eine Kugel könnte das Holz der Kutsche mühelos durchschlagen. Widerstandslos legte sie sich samt Zofe und Hund längs auf den
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