Das Geheimnis des Viscounts
zerbrechlicher aus als sonst. Zu zerbrechlich. „Er hätte dich töten können, mein Herz", sagte er sanft.
„Aber er hat es nicht getan."
Ihr Äußeres mochte zart und zerbrechlich wirken, doch ihr Wesen war ehern und unbezwingbar.
Den Blick fest auf sie gerichtet, nickte er. „Gut. Wickeln Sie ihn in eine Decke, Pynch, und nehmen Sie ihn zu sich aufs Pferd."
Melisande runzelte die Stirn. „Aber wäre die Kutsche nicht ..."
„Der kommt mir nicht in deine Nähe."
Ein Blick auf ihn zeigte ihr, dass er diesmal nicht mit sich reden ließe. Schweigend nickte sie.
Jasper sah Pynch an. „Seine Wunde verbinden Sie, wenn wir im Gasthaus angekommen sind. Ich möchte mich hier nicht länger als irgend nötig aufhalten."
„Jawohl, Mylord", sagte Pynch.
Dann ging Jasper zu seiner Gemahlin und nahm sie beim Arm; so warm und lebendig fühlte sie sich an. Er beugte sich vor und flüsterte ihr ins Ohr: „Das tue ich nur für dich, mein Herz. Nur für dich."
Sie blickte zu ihm auf, ihr Gesicht ein blasser Mond im Dunkel. „Nein, du tust es auch für dich. Es wäre nicht recht, ihn hier allein sterben zu lassen — ganz gleich, was er getan hat."
Er wollte sich jetzt nicht mit ihr streiten. Sollte sie ruhig glauben, dass ihn solche Gewissensfragen quälten. Er brachte sie zurück zur Kutsche, half ihr hinein, und als sie sicher und wohlbehalten saß, schloss er den Schlag hinter ihr. Selbst wenn der junge Straßenräuber noch ein paar Stunden lebte, konnte er Melisande nichts mehr zuleide tun. Und nur darauf kam es letztlich an.
Melisande seufzte, als sie spät am Abend die Tür ihres Zimmers hinter sich schloss. Jasper nahm bei ihren Übernachtungen stets zwei Zimmer, und so auch heute. Trotz der Aufregung des Überfalls, trotz des sterbenden Räuberjungen — der in ein Hinterzimmer gebracht worden war —, trotz der Tatsache, dass das kleine Gasthaus fast vollständig belegt war, fand Melisande sich wieder einmal einsam und allein auf ihrem Zimmer.
Sie trat an den Kamin, in dem ein kräftiges Kohlenfeuer brannte, das gewiss dem üppigen Trinkgeld zu verdanken war, mit dem ihr Gemahl die Wirtsfrau bedacht hatte. Die Flammen tanzten hell, doch Melisandes Finger waren kalt, und ihr wollte nicht warm werden. Ob die Bediensteten sich schon wunderten, dass ihre Herrschaft so bald nach der Hochzeit getrennte Zimmer nahm? Melisande empfand leise Scham. Fast war es, als würde sie als Gemahlin nicht genügen. Mouse sprang aufs Bett, drehte sich dreimal um sich selbst und ließ sich seufzend am Fußende nieder.
Wenigstens ersparte Sally sich jedwede Bemerkung zu diesem Arrangement. Ihre kleine Kammerzofe kleidete und entkleidete sie mit schier unerschöpflich guter Laune. Nur heute Abend, nach dem Überfall, hatte ihr sonst so sonniges Lächeln etwas bemüht gewirkt. Die Hände hatten ihr noch gezittert vom Schrecken, und nach fröhlichem Geplauder schien ihr auch nicht zumute gewesen zu sein. Melisande hatte sich des Mädchens erbarmt und es nach unten geschickt, damit es vor dem Zubettgehen noch etwas in den Magen bekam.
Und nun war Melisande wieder ganz allein. Viel Appetit hatte sie nicht gehabt, als die rundliche Wirtin ihnen das Abendessen serviert hatte. Schade eigentlich, denn das Schmorhuhn hatte köstlich ausgesehen, doch bei dem Gedanken, dass im Hinterzimmer der sterbende Junge lag, hatte sie kaum etwas herunterbekommen. So hatte sie sich bald entschuldigt und war auf ihr Zimmer gegangen. Jetzt jedoch wünschte sie, in der behaglichen Stube geblieben zu sein, die Jasper für sie reserviert hatte. Unschlüssig stand sie da, dann schüttelte sie den Kopf. Was brachte es denn, noch wach zu bleiben? Nun, da sie zur Nacht umgekleidet war, konnte sie ohnehin nicht mehr nach unten gehen. Also schlug Melisande die Bettdecke zurück, stellte erleichtert fest, dass die Laken sauber aussahen, und kletterte in das rustikale Bett. Sie zog sich die Decke bis zur Nasenspitze, kuschelte sich ein und blies die Kerze aus. Dann betrachtete sie die an der Decke tanzenden Schatten des Kaminfeuers, bis ihr die Lider langsam schwer wurden.
Ihre Gedanken begannen zu schweifen; sie ließ sich treiben. Jaspers glühende Augen, sein unerbittlicher Blick, als er den Räuber in die Kutsche gezerrt hatte. Schmorhuhn und Klöße, für die sie als Kind ihre Köchin vergöttert hatte. Wie lange sie noch auf schlechten Straßen in der schwankenden Kutsche reisen müssten. Wann sie wohl die Grenze nach Schottland passierten. Immer
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