Das Geheimnis des Viscounts
zurück und verschwand.
Mit einem entnervten Schnauben wollte Melisande in ihr Schlafgemach zurückkehren, doch an der Tür zögerte sie. Vales Gemächer waren gleich nebenan. Und die Versuchung war einfach zu groß. Sie marschierte eine Tür weiter und machte sie auf. Das Zimmer war leer, doch Mr Pynch hatte ganze Arbeit geleistet: ordentlich gereiht lagen Hemden, Westen und Krawattentücher auf dem Bett bereit und warteten nur noch darauf, eingepackt zu werden. Leise schloss Melisande die Tür hinter sich.
Sie ging zum Bett und strich sacht über die dunkelrote Decke. Hier lag er also nachts, die langen Glieder weit von sich gestreckt. Ob er wohl auf dem Rücken schlief oder auf dem Bauch, das zerzauste Haar halb unter einem Kissen vergraben? Wahrscheinlich schlief er nackt, zumindest stellte sie sich das so vor. Doch sie wusste es nicht. Es war eine sehr intime Angelegenheit, an der Seite eines anderen einzuschlafen und wieder aufzuwachen. Im Schlaf war man so schutzlos, verletzlich, fast wieder ein Kind. Und nichts wünschte sie sich sehnlicher, als er dass er ihr Bett teilen würde, dass er die ganze Nacht bei ihr bliebe und sich ihr von seiner verletzlichsten Seite zeigte.
Seufzend wandte sich sie um. Auf seiner Kommode stand eine gerahmte Miniatur seiner Mutter. In seiner Haarbürste hingen ein paar braune Haare, eines davon fast rot. Sie zog ihr Taschentuch aus dem Ärmel und barg die Haare vorsichtig darin, ehe sie es wieder einsteckte.
Dann trat sie an den Nachttisch und warf einen Blick auf das Buch, das darauf lag — eine Geschichte der englischen Könige —, ging dann hinüber ans Fenster und schaute hinaus. Wie auch von ihrem Zimmer, sah man hinaus in den Garten. Missmutig stand sie da und schaute sich um. Es lag noch so einiges herum — Kleider, Bücher, ein Stück Schnur, ein trockener Kiefernzapfen, Schreibfedern und Federmesser, daneben ein Tintenfass —, aber nichts davon verriet ihr viel über ihren Gatten. Wie dumm von ihr, hier heimlich herumzuschleichen und zu hoffen, mehr über Jasper zu erfahren. Sie konnte nur den Kopf über sich schütteln, doch dann fiel ihr Blick auf die Tür des Ankleideraums. Gewiss würde sich dort auch nichts finden, aber nun, wo sie schon einmal hier war ...
Melisande öffnete die Tür. In dem kleinen Raum standen eine weitere Kommode, einige Kleiderständer, ein schmales Bett, und in einer Ecke lag ein dünner Strohsack an der Wand, und darauf eine Decke. Melisande stutzte. Seltsam. Warum denn ein Bett und ein Strohsack? Eines von beiden dürfte Mr Pynch doch wohl genügen. Und warum überhaupt ein Strohsack? Lord Vale hatte auf sie bislang den Eindruck eines großzügigen Dienstherrn gemacht. Weshalb dann ein so spartanisches Bett für seinen treuen Diener?
Sie trat in die Kammer, ging um das Bett herum und hockte sich neben den Strohsack, um das Lager näher in Augenschein zu nehmen. Eine fast heruntergebrannte Kerze stand auf dem Boden, ein Buch lag halb unter der achtlos hingeworfenen Decke verborgen. Sie sah sich nach dem Bett um, das überhaupt nicht den Anschein machte, als würde es benutzt. Die Matratze war nicht einmal bezogen. Melisande zog die Decke zurück und las den Titel des Buchs. Es war ein Gedichtband von John Donne. Einen Moment hielt sie inne, dachte, welch unerwartete Lektüre für einen Kammerdiener, dann sah sie das Haar auf dem Kissen. Es war dunkelbraun, fast rot.
Hinter ihr räusperte sich jemand.
Melisande fuhr herum und sah Mr Pynch in der Tür stehen, die Brauen erhoben. „Kann ich Ihnen behilflich sein, Mylady?"
„Nein." Melisande verbarg die zitternden Hände in ihren Röcken und war nur froh, dass es nicht Jasper war, der sie ertappt hatte. Wenngleich es schlimm genug war, sich vom Kammerdiener erwischen zu lassen, wie man die Habseligkeiten seines Gatten durchsuchte. Sie reckte das Kinn und rauschte an Pynch vorbei zur Tür, als ob nichts sei.
Doch etwas ließ sie zögern, und sie wandte sich noch einmal um. „Sie stehen schon einige Jahre in Diensten meines Gatten, nicht wahr, Mr Pynch?"
„So ist es, Mylady."
„Hat er schon immer so wenig geschlafen?"
Der kahlköpfige Koloss nahm eines der Krawattentücher vom Bett und legte es feinsäuberlich zusammen. „Seit ich ihn kenne, ja."
„Und wissen Sie, weshalb?"
„Manche Männer brauchen nicht viel Schlaf", erwiderte der Diener.
Schweigend sah sie ihn an.
Sorgsam legte er das Tuch zurück, dann sah auch er sie endlich an. Er seufzte, als wisse er sich keinen
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