Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
gleichgültig, dann sollte sie zumindest wütend sein und nicht unter der Zurückweisung leiden. Allein dass er ihr ohne Hemmungen böse Absichten unterstellte, bewies schließlich, dass er ihr Wesen nicht erkannt hatte. Ansonsten wäre ihm klar gewesen, dass sie Adele niemals mit Absicht zugesetzt hätte. Erneut sah sie Mattes’ Gesicht vor sich, den harten Ausdruck in seinen Augen, die zu einer Linie zusammengepressten Lippen. Sein Zorn und seine Enttäuschung hatten sie tiefer getroffen, als sie sich einzugestehen bereit war. Es half nichts, dass sie unbegründet waren. Einen anderen Mann hätte sie möglicherweise mit der Wahrheit konfrontiert, allein schon aus dem Grund, weil sie es sich selbst schuldig war. Dafür hatte sie jedoch Mathildes Geschichte zu deutlich im Gedächtnis. Wenn Mattes erst einmal eine Entscheidung getroffen hatte, ließ er sich davon nicht mehr abbringen. Nun, da er in ihr lediglich eine hartherzige Schnüfflerin sah, wäre jeder Versuch einer Klärung von vornherein zum Scheitern verurteilt.
Und wenn du dich darin täuschst? , fragte eine innere Stimme, die Greta am liebsten ignoriert hätte. Was, wenn du in Wahrheit bloß zu feige bist, dich Mattes zu stellen, weil du in der letzten Zeit schon zu viele Verletzungen hinnehmen musstest? Oder hast du dir die besondere Verbindung zwischen euch beiden doch nur eingebildet und bist froh, jetzt einen Schlussstrich unter die verwirrende Situation ziehen zu können?
Auf diese Fragen mochte sich Greta lieber keine Antwort geben. Stattdessen ließ sie den Blick durch die Stube schweifen und malte sich im Geiste aus, wie der Raum wohl aussehen mochte, wenn die scheußlichen Tapeten von den Wänden geholt und der Dielenboden vom braunen Lack befreit war. Bevor sie es sich versah, standen Möbel da, wo jetzt noch mit Plunder gefüllte Kisten und kaputte Lampenschirme die Ecken füllten. Gerahmte Bleistiftzeichnungen, die Details des Hauses zeigten, hingen an den Wänden, und vorm Ofen lag eine Hundedecke. Bevor es ihrem merklich verwirrten Geist gelang, auch noch Fado auf ebendieser Decke zu platzieren, stand Greta auf, um Holz im Ofen nachzulegen. Zwar sprangen ihre Gedanken in diesem Haus von einem unangenehmen Thema zum nächsten, aber ihr war trotzdem keinesfalls danach zumute, ins Sturmwind zurückzufahren.
Während Greta die Glut mit einem Holzstück schürte, nahm sie sich vor, Mattes’ Rat zu beherzigen und sich ihrem eigenen Leben zuzuwenden. Und das Wichtigste war im Augenblick, Arjens Erinnerung an Ruben einem befreienden Ende zuzuführen. Die Frage war, wo sie als Nächstes ansetzen sollte – einmal davon abgesehen, dass sie die Fotoabzüge neu anfertigen lassen musste. Sie wusste weder, was aus Ruben geworden war, noch, wo sich der Walfischknochen befand. Selbst wenn sich sein Verbleib durch Arjens Erzählung aufklären würde, konnte sie in der Zwischenzeit versuchen, mehr über ihn herauszubekommen. In der Mythologie der Inuit oder über ihre Handwerkskunst ließ sich gewiss etwas herausfinden … Falls es sich bei dem Walfischknochen tatsächlich um ein antikes Relikt handelte, dem wirklich die Kraft zugesprochen worden war, das eigene Schicksal zu bestimmen. Im Internet würde sich einiges finden lassen. Sie beschloss, gleich am folgenden Tag der nächstgelegenen Bibliothek auf dem Festland einen Besuch abzustatten. Auf Beekensiel gab es ja noch nicht einmal einen Buchladen. Kein Wunder, dass die Leute hier sonderbar waren …
Gerade als die Flammen so hoch züngelten, dass Greta nur noch schleunigst die Ofentür zubekommen wollte, klopfte es an der Tür. Das glühende Holzstück, das sie in Ermangelung eines Schürhakens benutzte, fiel zu Boden und kokelte die Lackschicht an.
»Über den Schaden wird sich Herr Freitag vom Bürgeramt wohl kaum beschweren, der müsste mir vielmehr dankbar sein, dass ich diesem scheußlichen Lack den Kampf angesagt habe«, murmelte Greta, während sie in die Diele eilte. Der Verwalter der alten Kate musste durch Trude mitbekommen haben, dass sie kurz davorstand, sich hier häuslich einzurichten. Bestimmt sah er seine Chance gekommen, dieses seit Jahren leerstehende Schätzchen endlich loszuwerden. Obwohl allein die Vorstellung abstrus war, in die Kate einzuziehen, ahnte Greta, dass sie ihm keine beherzte Absage erteilen würde. Über eine Art Miete für die Zeit unseres Aufenthalts könnte man ja wenigstens mal nachdenken. Vor allem da das Sturmwind bald bis in die letzte Ecke mit Rosenbooms
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