Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
passieren wird. Ich weiß es nicht … Ich bin ein Ennenhof, auch wenn es mir nicht immer gefällt. Aber wenigstens weiß ich, wer ich bin – im Gegensatz zu meiner Mutter. Und das, was sie erlebt hat, war noch viel trauriger: Rose hat sich von ihrer Familie abgewandt und wusste zum Schluss nicht mehr, wohin sie gehen sollte. Sie war immerzu auf der Flucht. Ich habe dieses Gefühl kennengelernt, als ich mit Anfang zwanzig auf Weltreise gegangen bin, weil ich dachte, mich würde hier ebenfalls nichts halten. Und dann habe ich es mit Menschen zu tun bekommen, die genau wussten, dass sie die richtigen Dinge am richtigen Ort taten. Damals habe ich mich dazu entschieden, es ihnen nachzutun. Es fühlte sich richtig an. Und was hätte ich sonst tun sollen?«
Von einer plötzlichen Erschöpfung heimgesucht, trat Greta zur Seite und ließ Mattes eintreten. »Ja, was bleibt einem schon anderes übrig, wenn sich der große Lebensplan nicht von allein offenbaren will?«, wiederholte sie, unschlüssig, ob es Mattes’ Ergebenheit an sein Schicksal war, die sie niederdrückte, oder die Befürchtung, dass es alles andere als einfach war, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Ihr war das bislang ja auch keineswegs gelungen.
In der Stube scheuchte Mattes als Erstes Fado vom Sofa, wo der Hund es sich auf den Wolldecken gemütlich gemacht hatte. Es war erstaunlich, mit welcher Zielsicherheit Tiere immer die besten Plätze fanden.
»Man kann es Fado wirklich nicht verübeln.« Mattes versuchte sich an einem Lächeln. »Draußen ist es eisig, vor allem jetzt, wo die Sonne allmählich verschwindet. Höchste Zeit, dass ich meine Jolle für den Winter unterbringe. Alle anderen haben das längst gemacht, aber ich hatte irgendwie so viel anderes um die Ohren.« Mattes stellte sich vor den Ofen und wärmte sich die Hände. »Man merkt der Kate an, dass ihre Erbauer wussten, was sie taten. Sind gut gedämmt, diese alten Wände, auch wenn sie wegen der undichten Fensterrahmen Feuchtigkeit gezogen haben. Ich würde zu gern wissen, was für ein Material benutzt wurde, wobei alles reine Natur sein dürfte, ich tippe nämlich auf Bau anno 1750, eventuell sogar ein wenig früher. Wie auch immer, es ist ein Wunder, dass du die Stube trotz der maroden Fenster so warm bekommen hast.«
»Erzähl das Herrn Freitag, dem Herrn vom Bürgeramt, der kann solche Argumente gebrauchen, um die Kate endlich an den Mann zu bringen. Es ist eine Schande, dass ein solches Schmuckstück verfällt. Aber außer den Einheimischen hält es auf Beekensiel wohl niemand lang genug aus, als dass er sich hier ein Haus kaufen würde.« Es misslang Greta, auch nur annähernd so distanziert zu klingen, wie sie es beabsichtigte. Das entging nicht einmal Mattes, der ihr zum ersten Mal seit der missglückten Begrüßung an der Tür in die Augen sah.
»Dir liegt offenbar etwas an dieser Kate«, stellte er fest. An der Art, wie er sich umsah, erahnte Greta, dass auch er das Besondere des Hauses erkannte. »Das gute Stück ist in den letzten Jahren ganz schön heruntergekommen, aber die Bausubstanz ist ordentlich – von der wunderschönen Lage einmal abgesehen. Kein schlechter Ort, um zu leben.«
Greta spürte geradezu körperlich, wie sich die Verbindung zwischen Mattes und ihr wieder aufbaute. Es war, als würden lauter unsichtbare Fäden ein Band zwischen ihnen weben, die sie immer enger zueinander hinziehen würden. Wenn sie nicht aufpasste, würde sie sich plötzlich an seine Brust gedrückt wiederfinden. Hastig trat sie vor das Fenster mit dem gesprungenen Glas, durch das Kälte eindrang, während er verstohlen den Reißverschluss seines Parkas hinabzog. Es war die einzige Möglichkeit, um Mattes den Rücken zuzudrehen, ohne allzu abweisend zu wirken. Denn genau das wollte sie plötzlich nicht mehr, egal wie wütend sie eben noch auf ihn gewesen war.
»Es ist ein Haus, das auf einer Insel steht«, sagte sie mit Nachdruck, als müsse sie sich selbst überzeugen. »Auf einer kleinen Insel. Ich kann mir nicht einmal ansatzweise ausmalen, was für ein Leben ich hier führen sollte.«
»Wohin zieht es dich denn sonst?«
Es hat mich noch nie zuvor irgendwohin gezogen – bis jetzt. Und nun bindet mich nicht nur diese verwahrloste Kate mit jedem Moment mehr an sich, sondern auch du , hätte Greta fast eingestanden. Aber sie hatte ihre Lektion gründlich gelernt. Weder Verstand noch Gefühl waren die besten Ratgeber im Leben, ob es nun um Häuser oder um zerknirscht
Weitere Kostenlose Bücher