Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
ersten Blick hätte man meinen können, es mit einem am Boden zerstörten Mann zu tun zu haben, aber Greta kannte ihn besser. Was ihr hier geboten wurde, war ein fein abgestimmter Auftritt: Um seinen Hals trug er anstelle seines modischen Halstuchs einen dezent gestreiften Wollschal, den er doppelt umgeschlungen hatte, als habe er sich eben noch gegen den Küstenwind gestemmt, und sein frisch geschnittenes Haar war ungewöhnlich kurz. Greta war sofort klar, was er damit bezweckte. Sie sollte einen gereiften und geerdeten Erik Brunner vor sich sehen, der seine Lektion darüber, wohin Oberflächlichkeit und Täuschungen führen konnten, gelernt hatte. Und der gelitten hatte. Ihretwegen.
»Greta«, sagte Erik dann auch mit bedrückter Stimme, während er auf sie zuging. »Es tut mir leid, dass ich dich einfach überfalle, aber du hättest meinen Besuch ansonsten bestimmt abgeblockt. Und egal was du wegen dieser Software-Affäre von mir denkst, ich möchte dich bitten, mir die Chance zu geben, mich zu erklären. Nicht etwa weil ich glaube, dich von der Richtigkeit meines Verhaltens überzeugen zu können – nein! Ich habe nämlich begriffen, was für einen Mist ich da gebaut habe. Es ist nur … So können zwei Menschen, die sich geliebt und ein Leben geteilt haben, doch nicht auseinandergehen.« Erik blieb so dicht vor ihr stehen, als habe er Mattes gar nicht bemerkt. Überhaupt schien es für ihn nur Greta zu geben. »Ich bin noch nie zuvor am Meer gewesen, ich wusste gar nicht, was ich verpasse. Es ist beängstigend schön. Es passt zu dir.«
Was sollte sie darauf erwidern, ohne die Beherrschung zu verlieren? Erik hatte sie in einer Situation abgefangen, in der sie ihn weder einfach stehen lassen noch eine lautstarke Szene machen konnte – obwohl ihr nach diesem Ausmaß an Dreistigkeit durchaus danach zumute war. Diese elende Heuchelei. Nichts hatte er dazugelernt, er glaubte immer noch, sie mit den gleichen alten Tricks ködern zu können. Appelliere an Gerechtigkeit und Liebe, nimm ihr den Wind aus den Segeln, indem du dich von vornherein schuldig bekennst, und sichere dich mit dem Wohlwollen ihrer Familie gegen ihre Wut ab. Auch jetzt konnte Anette nicht widerstehen, Greta vom Tisch aus milde anzulächeln, was wohl bedeuten sollte: Hat Erik das nicht schön gesagt? So ein guter Mann, viel besser als der derbe Bursche an deiner Seite. Erik Brunner ist eben ein Mann von Welt. Wenigstens brachte Anette ausreichend Feingefühl auf, um sitzen zu bleiben, anstatt die Unterhaltung mit ihrer erfahre nen Art zu moderieren. Zu Gretas Verunsicherung nahm Mattes seine Hand von ihrer Taille, während Erik alles daransetzte, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
»Ich muss schon sagen, das ist ein geradezu filmreifer Auftritt, Erik. Du weißt wirklich, wie man sich in Szene setzt.« Es gelang ihr, die Wut weitestgehend aus ihrer Stimme zu tilgen. Egal wie befreiend es gewesen wäre, ihn anzuschreien, es hätte nur Anette und Konsorten dazu gebracht, dem armen Mann Hilfestellung zu leisten. Unter solchen Umständen würde Mattes vermutlich die Flucht ergreifen, und genau das wollte sie vermeiden. »Ich weiß es zu schätzen, dass du eine so weite Anreise auf dich genommen hast, damit wir zu einem harmonischen Ende gelangen. Nur leider hast du dir einen ziemlich schlechten Zeitpunkt dafür ausgesucht, es ist nämlich gerade so viel los, da habe ich keinen freien Kopf zum Scherbenaufräumen.«
Ein Schatten flog über Eriks Gesicht, und zum ersten Mal wanderte sein Blick zu Mattes, der mit nachdenklicher Miene ein Stück beiseitegetreten war, aber immer noch nah genug bei Greta stand, um nur die Hand nach ihr ausstrecken zu müssen, falls sie ihn brauchte. Offenbar gefiel Erik wenig, was er sah, obwohl er sich darum bemühte, seinen zerknirschten Ausdruck aufrechtzuerhalten. »Mir ist durchaus bewusst, dass mein Verhalten überzogen ist, aber was ist mir anderes übriggeblieben?«, fragte er. »Meine Telefonanrufe in Meresund hast du ja nicht entgegengenommen, und ich habe so den Verdacht, dass du meine Briefe, die Anette gesammelt und dir mitgebracht hat, direkt ins Kaminfeuer befördert hast. Als ich dann auch noch gehört habe, dass dein Großvater erneut an Krebs erkrankt ist, musste ich einfach kommen.«
»Von wem hast du das gehört?« Greta versuchte den Blick ihrer Mutter zu erhaschen, die jedoch damit beschäftigt war, die Tischdecke glattzustreichen.
»Das ist jetzt doch egal, genau wie unsere Streitigkeiten. Es
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