Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
wollte sich dem Chaos nicht stellen, das am letzten Abend über sie hereingebrochen war. Tief in ihrem Inneren fühlte sie eine regelrechte Blockade, und sie brauchte sich in Gedanken bloß in ihre Nähe zu wagen, dann bekam sie schon einen Magenkrampf.
Es war eine himmelschreiende Ungerechtigkeit, dass ihr nun auch noch diese Bürde auferlegt wurde. Und das absolut Schlimmste war, dass sie es sich selbst schuldig war, die leidige Angelegenheit mit Erik zu Ende zu führen. Nur: Wie sollte sie den dafür notwendigen kühlen Kopf behalten, wenn sie sich eher wie ein Wasserkessel kurz vor der Explosion fühlte? Das Unbehagen, das ihre Beziehung zu Erik begleitet hatte wie ein treuer Schatten, war einer haltlosen Wut und Enttäuschung – auch sich selbst gegenüber – gewichen. Dass ihr Tobsuchtsanfall in Zürich und ihr anschließendes Schweigen keinen hinreichenden Schlussstrich bildeten, war ihr selbst durchaus bewusst. Nichtsdestotrotz hätte sie die Aufarbeitung dieses Dilemmas gern noch eine Weile aufgeschoben, aber man ließ sie ja nicht in Frieden. Wobei Männer es besser traf als man . Erst Erik in seiner ganzen Selbstherrlichkeit, der einfach unangemeldet im Sturmwind einfiel und sich ihr im Schutz ihrer Familie aufdrängte, und dann auch noch Mattes, der sie vor vollendete Tatsachen stellte.
»Liebeskummer bekämpft man ja bekanntlich am besten mit einer Affäre«, hatte er behauptet. Als wäre sie nicht imstande, sich auf eine neue Liebe einzulassen, nur weil Erik ihre Beziehung nicht kampflos aufgab. Wie kam Mattes bloß auf die Idee, was zwischen ihnen in der Kate passiert war, wäre für sie lediglich eine Übersprunghandlung gewesen? Nach allem, was sich seit ihrer Ankunft auf Beekensiel zwischen ihnen abgespielt hatte? Sie waren sofort aufeinandergetroffen und hatten es seitdem nicht geschafft, sich aus dem Weg zu gehen, sosehr sie es sich beide gelegentlich gewünscht hatten. Die Anziehungskraft, die mit jedem gemeinsamen Moment stärker geworden war, hatten sie beide doch gespürt … Und er sprach von einer Affäre, bevor er sich – ganz der einsame Seebär – mit seinem Segelschiff davonmachte!
Greta schritt schneller aus, bis der feine Sand des Nordstrands unter ihren Stiefeln aufwirbelte. Noch immer war es ungewohnt windstill, kaum ein Lüftchen fuhr durch ihr Haar, auch wenn der Himmel von einer undurchlässigen Schicht grauer Wolken verhangen war. Der Strand lag nach der Ebbe so eben da, als habe eine unsichtbare Hand ihn glattgestrichen. Hier gab es keine anderen Fußabdrücke als ihre eigenen, nur ab und zu Möwenspuren, ansonsten herrschte Einsamkeit. Es war schwer zu sagen, wie lange sie schon den Strand entlanghastete, aber sie hatte zweifellos das östliche Ende der Insel erreicht. Das Ostkap. Der Dünengürtel flachte hier ab, und die Insel lief zu einer spitzen Sandbank aus, die bei Flut wohl unter Wasser stand. Auch der Streifen Watt wurde hier auffällig schmal, während die kräftigen Wellen unablässig auf ihn zurollten. Das dunkle Blau des Meeres deutete nicht nur darauf hin, dass der Grund an dieser Stelle rasant abfiel, sondern auch, dass mit starken Unterströmungen zu rechnen war. Wie ein Wellenbrecher ragte die Landzunge in jene Schneise hinein, in der die Wassermassen zwischen Halbinsel und Festland umgewälzt wurden.
Von einer dunklen Ahnung heimgesucht, blieb Greta stehen und blickte auf die hohen Wellenrücken, die mit Grollen gegen den Sandstreifen schlugen. Diese Stelle musste ihre Urgroßmutter Magda an einem freundlichen Sommertag vor rund achtzig Jahren für ein Bad auserkoren haben. Es war kein Wunder, dass die Einheimischen diese Inselspitze mieden, aber Magda hatte sich mit solchen Dingen als Zugezogene nicht ausgekannt. Bestimmt hatten sie die Wellen gelockt, als sie sich für ein Bad entschied. Vielleicht hatte sie sogar darauf gehofft, ihr Sohn würde seine Angst vorm Meer überwinden und zu ihr kommen, wenn er erst einmal sah, wie viel Spaß seine Mutter in diesem brausenden Kessel hatte. Dann hatte sie die Strömung erfasst und unter die Oberfläche gezogen, dorthin, wo jeder Kampf rasch verloren war.
Greta schlang die Arme um sich, doch damit konnte sie nichts gegen die Kälte ausrichten, die sich in ihren Gliedern ausbreitete. Magda war ihrem einzigen Sohn Arjen in vielerlei Hinsicht eine wunderbare Mutter gewesen: Sie hatte ihm auf einer Insel voller distanzierter Menschen, umgeben von Naturgewalten, die den Jungen ängstigten, ein liebevolles
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