Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
die Fenster zum Erzittern brachte, jagte ihr Schauer über den Rücken und ließ sie unentwegt darüber spekulieren, was dieser stündlich stärker werdende Sturm wohl mit einer Jolle auf See anstellen mochte. Warum hatte Mattes ausgerechnet jetzt zum Winterliegeplatz aufbrechen müssen?
Als es an ihre Zimmertür klopfte, zuckte Greta zusammen, dann stürzte sie auch schon zur Tür, vor der nicht – wie einen Moment lang erhofft – Mattes stand, sondern ihr Großvater.
»Nun sieh mich bitte nicht so enttäuscht an«, flackste Arjen, der ihr die Gefühle offenbar von der Nasenspitze ablas. »Ich bin zwar kein dunkelhaariger Hüne, aber immerhin habe ich es geschafft, mich heldenhaft diese Endlostreppe hinaufzuschleppen. Ein Sessel mit Schemel für meine müden Knochen wäre jetzt nicht verkehrt.«
Hastig trat Greta beiseite, um Arjen einzulassen. »Entschuldige bitte. Ich bin nur ziemlich überrascht, dich hier zu sehen. Nicht nur wegen der vielen Treppen … Es ist ja schon recht spät.«
Nachdem Arjen sich in den Sessel gesetzt hatte und wieder zu Atem gekommen war, sah er sich im Zimmer um. »Hübsch hast du es, sehr hübsch sogar. Dafür hat sich der Aufstieg gelohnt, auch wenn ich es in erster Linie getan habe, weil ich ein wenig Bewegung brauchte. Dieser Familienansturm ist wirklich beglückend, und ich weiß es überaus zu schätzen, dass sich die halbe Sippschaft im Sturmwind versammelt hat, um mir vor Augen zu führen, dass ich geliebt werde, obwohl ich ein alter Sturkopf bin. Aber die viele Gesellschaft ist auch anstrengend – wobei ich in Wahrheit nur halb so viel döse, wie ich vorgebe. Ich weiß mir bei diesen beiden dauerredenden Frauen einfach nicht anders zu helfen, als mich schlafend zu stellen. Oft schlafe ich dabei dann tatsächlich ein. Deswegen verwandele ich mich auch allmählich in eine Nachteule, wie du siehst. Na ja, so haben wir beide wenigstens die Gelegenheit, unter vier Augen miteinander zu sprechen.«
»Ja, das habe ich auch vermisst«, gab Greta zu und nahm die Hand ihres Großvaters. »Es ist so viel passiert innerhalb kürzester Zeit, die Hälfte des Tages weiß ich mittlerweile gar nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Da sind so viele Dinge, über die ich eigentlich in Ruhe nachdenken müsste, aber immerzu verdrängt das eine das andere, wenn du verstehst, was ich meine. Wenigstens hat Erik die Segel gestrichen, womit wenigstens das kleinste meiner Probleme gelöst ist. Er ist sofort abgereist, als ihm klar geworden ist, dass ich mich nicht zur Rückkehr überreden lasse. Ihm ging es wohl sowieso mehr um seinen verletzten Stolz als um unsere Beziehung. Vielleicht bin ich unfair, aber ich hatte den Eindruck, als ob er nichts ändern würde, egal was er behauptet.« Greta musste schlucken. Noch vor kurzem hätte sie nie gedacht, dass ihr dramatisches Beziehungsende so schnell in den Hintergrund rücken könnte, auch wenn es ihr nur bestätigte, wie richtig ihre Entscheidung gewesen war. »Ich bin sehr erleichtert, dass es mit Erik und mir nun endgültig vorbei ist.«
»Dieser Mathias Ennenhof ist dir ganz schön unter die Haut gegangen, was?« Ihr Großvater blinzelte sie freundlich an.
Die Frage traf Greta unvermittelt und riss sie aus ihren Grübeleien. »Es ist nicht nur Mattes, das kannst du mir gern glauben. Aber, ja: Ich mache mir Sorgen um ihn. Bei diesem Wetter sollte man nicht mit einem Segelboot unterwegs sein – um das zu erkennen, braucht es keinen Fachmann.«
»Soll ich dich ein wenig ablenken, da es deinem Buch allem Anschein nach nicht gelingt, dich in seinen Bann zu ziehen? Was liest du denn da überhaupt … ›Die Liebe in groben Zügen‹ von Bodo Kirchhoff … A-ha.« Arjen balancierte das Buch auf seinem übergeschlagenen Bein, das sich deutlich unter der Wollhose abzeichnete. Egal wie sorgfältig er sich auch kleidete, sein rascher körperlicher Verfall ließ sich nicht länger überspielen.
»Den Roman hat Anette mir ausgeliehen. Wenn ich mich nicht täusche, hat sie ihn von Thomas Roder geschenkt bekommen und trägt ihn seitdem mit sich herum, ohne auch nur einen Blick hineingeworfen zu haben. Das Thema ist ihr wohl zu nahe. Es geht um die Liebe und die Frage, was eine lange Beziehung wert ist. Da ich darin leider keine besondere Spezialistin bin, dachte ich, es zu lesen kann nicht schaden, obwohl mir – ehrlich gesagt – im Augenblick mehr nach seichter Ferienlektüre zumute wäre. Oder nach einer Märchenstunde mit meinem Großvater, der mich in
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