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Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman

Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman

Titel: Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Heitmann
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den Sommer 1946 entführt und mir erzählt, wie er mit seinem besten Freund die Dünen unsicher gemacht hat. Da fällt mir ein, ich habe dir ja noch gar nicht die Abzüge gezeigt!«
    Aufmerksam beobachtete Greta Arjen, als er die Bilder durchsah. Am längsten verweilte sein Blick auf dem Bild, das Ruben als Jungen zeigte – genau wie sie es erwartet hatte.
    »Mir wird erst jetzt klar, wie sehr ich diese Aufnahmen vermisst habe. Mir ist ja nur der Abzug geblieben, auf dem ich selbst zu sehen bin und auf den Ruben einige Zeilen geschrieben hat. Der steckte nämlich einige Jahre als Glücksbringer in meiner Brieftasche, während die anderen mir auf einem meiner unzähligen Umzüge verloren gegangen sind. Wobei es gut möglich ist, dass ich unbewusst schluderig mit ihnen umgegangen bin, weil sie mich an etwas erinnerten, das ich unbedingt vergessen wollte. So war das nämlich lange Zeit: Ich wollte Ruben vergessen, trotz allem, was er mir Gutes getan hatte. Das ist mir dann ja durchaus gelungen, sodass ich jetzt tief graben muss, um an die Erinnerungen heranzukommen. Es ist schwierig, die Fetzen, aus denen sie bestehen, zu fassen zu kriegen und sie so aneinanderzureihen, dass sie der Wahrheit entsprechen. Auch ist da ein kleiner Schneideteufel in meinem Kopf, der herausnehmen will, was mich verletzt oder mich gar in einem schlechten Licht dastehen lässt. Die Eitelkeit und Harmoniesucht eines alten Mannes ist nicht zu unterschätzen. Ich liege mit geschlossenen Augen da und versuche, Ruben wieder lebendig werden zu lassen, aber er entgleitet mir, der Klang seiner Stimme dringt lediglich verzerrt zu mir durch, und seine geschmeidigen Bewegungen erahne ich bloß noch für einen Sekundenbruchteil, dann habe ich den Zugang auch schon wieder verloren. Das ist schmerzhaft und wunderschön zugleich.« Arjen hielt Rubens Foto hoch. »Nach allem, was ich dir über den Sommer von 39 erzählt habe … Hast du ihn dir so vorgestellt?«
    Greta nickte. »Genau so. Ich bilde mir sogar ein, dass ich ihn unter einer ganzen Reihe von Jungenaufnahmen herausgepickt hätte. Ich kann mir vorstellen, dass der Prozess des Erinnerns für dich schmerzhaft ist, aber ich kann dir versichern, dass er dir gelingt. Deine Erzählungen lassen mich miterleben, was du damals erlebt hast. Vielleicht ist deine Erinnerung verblasst, aber wenn es darauf ankommt, erweckst du sie zum Leben. Allerdings wäre es wohl zu viel verlangt, sie auch noch festhalten zu können.«
    »Du hast recht, man kann das Vergangene nicht beliebig auferstehen lassen, egal wie sehr man sich das wünscht.« Trotz seiner Einsicht studierte Arjen mit sehnsüchtigem Gesichtsausdruck die Fotografie seines Freundes.
    Mehr denn je lagen Greta Fragen auf der Zunge, mit denen sie ihren Großvater zu gern konfrontiert hätte, allen voran die brennende Frage danach, was aus Ruben geworden war. Doch was war wichtiger? Ihre Neugierde zu befriedigen oder Arjen dabei zu begleiten, wie er seine Erinnerung an Ruben ein Stück vorantrieb? Die treffende Antwort zu finden, fiel ihr nicht schwer. »Das Sommerfest, das du auf die Beine gebracht hast, blieb nicht ohne Folgen, richtig?«
    Arjen legte Rubens Foto auf den Nachttisch und schenkte seiner Enkelin ein Lächeln. »In so mancher Hinsicht, könnte man meinen. Für meinen Teil bedeutete das nicht weniger, als dass ich auf den Geschmack gekommen war, was es bedeutete, ein Mann zu sein. Zwar hatte mich Rubens Geständnis, dass er Ole Ennenhof beschattete, in Sorge versetzt, aber noch mehr zerbrach ich mir plötzlich den Kopf über den seltsamen Haarschnitt, den mir mein Vater eigenhändig verpasste, seit unsere Dörchen nicht mehr da war. Und noch viel mehr beschäftigte mich die Frage, wie – um Himmels willen – man abseits der Tanzfläche mit jungen Damen ins Gespräch kam, ohne Aufsehen zu erregen. Das trieb mich ordentlich um, bis ich die Aufnahmen von 1939 hervorholte, die Ruben haben wollte. Ich hatte die Abzüge machen lassen, nachdem ich im Herbst wieder aufs Ulricianum nach Aurich musste. Seitdem hatte ich sie wie einen Schatz vor meinem Vater verborgen, der sie zweifellos verbrannt hätte, sobald sie ihm in die Hände gefallen wären. Das Thema Ruben war für ihn all die Jahre ein rotes Tuch. Er machte mir schon Vorwürfe, wenn ich bloß zu Streifzügen durch die Dünen aufbrechen wollte oder gedankenverloren Löcher in die Luft starrte. Für ihn waren das alles Flausen, die mir dieser Herumtreiber in den Kopf gesetzt hatte und die er

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