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Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman

Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman

Titel: Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Heitmann
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geschrieben, eine solche Behandlung war er nicht gewohnt. Allerdings protestierte er nicht weiter, sogar dann nicht, als Arjen ihm Schuhe und Socken auszog.
    Arjen spielte mit dem Gedanken, mit dem Fahrrad in die Siedlung zu fahren und dem Arzt auf dem Festland eine Nachricht zukommen zu lassen, dass es seinem Vater schlecht ging und er für eine Untersuchung auf die Insel kommen sollte, entschied sich jedoch dagegen. Der seit einigen Monaten für Beekensiel verantwortliche Landarzt neigte nämlich dazu, jede Erkrankung als Wehwehchen abzutun, wegen dem er sich nun wirklich nicht auf Reisen begeben müsste. Arjen sah wenig Sinn darin, seine Zeit mit einem Telefonat zu verschwenden, bei dem letztendlich nichts herumkam. Also brachte er seinem Vater einen nassen Lappen und ein paar Wadenwickel gleich mit. Sobald Thaisen sich erholt hatte, würde er ihn dazu überreden, in der Auricher Klinik vorstellig zu werden. Zu seiner eigenen Verwunderung zweifelte er nicht daran, dass er sich gegen seinen Vater würde durchsetzen können. Einfach aus dem Grund, weil er recht hatte: Thaisen war gesundheitlich angeschlagen und bedurfte medizinischer Betreuung. Gegen ein solches Argument kam nicht einmal sein wortgewaltiger Vater an, der sich sonst von niemandem etwas sagen ließ. Mal schauen, ob sich in der Siedlung nicht ein Medizinbuch auftreiben ließ, mit dem er seinen Verdacht, dass Thaisen an einem Herzleiden erkrankt war, untermauern konnte.
    Als aus der Stube regelmäßiges Schnarchen ertönte, verspürte Arjen den Wunsch, durch die Dünen zu streifen, sich in der Hitze, die sich selbst gegen die Dämmerung behauptete, zu bewegen, bis jeder einzelne Muskel brannte. War ihm sein Körper vor kurzem noch wie ein Gefängnis vorgekommen, bekam er nun nicht genug davon, ihn zu spüren. Doch er wollte seinen Vater nicht alleine lassen, und außerdem wollte Ruben am Abend vorbeikommen. Arjen zupfte nachdenklich an seiner Unterlippe, dann huschte er auf blanken Sohlen in seine Kammer.
    Unter dem Boden der Kommode war ein Umschlag mit Reißzwecken befestigt, der in den Ecken schon ganz zerstochen war. Auf der Bettkante sitzend, sah Arjen die abgegriffenen Aufnahmen durch. Ganz unten im Stapel wurde er fündig, dort waren die Aufnahmen, die der im Internierungslager sitzende Fred Denneburg gemacht hatte. Er hatte sich diese Fotos, die einen bierseligen Herrenabend des örtlichen NSDAP -Verbands zur späten Stunde zeigten, nie groß angesehen. All die Bierglas-Stemmer und Zuproster, die Schulterklopfer und Redenschwinger – sie kümmerten ihn nicht, obwohl sie es waren, die viel zu lange den Takt auf Beekensiel vorgegeben hatten. Nun sah Arjen sie sich zum ersten Mal genau an und studierte die Gesichter. Warum interessierte sich Ruben ausgerechnet für diese Fotos, wo doch die meisten Männer, die sie zeigten, tot, in Gefangenschaft oder bei Ankunft der englischen Besatzer untergetaucht waren?
    Es dauerte eine Weile, bis Arjen begriff, was Rubens Interesse geweckt hatte: Auf zwei Aufnahmen sah man Rasmus Ennenhof im vertraulichen Gespräch mit Heinz Flugmann, einem hochrangigen Beamten des Reichsamts für Wirtschaftsausbau, der sich und seiner Familie bei Kriegsende das Leben genommen hatte. Zu dem Zeitpunkt, zu dem die Fotos entstanden waren, war es auf der Feier offenbar schon hoch hergegangen, wie allein schon die leicht verwackelten Aufnahmen bewiesen. Außerdem zeigten die Bilder die beiden Männer etwas abseits, als wollten sie nicht gestört werden, während der Rest der Gesellschaft die Schnapsgläser hob.
    Heinz Flugmann … An diesen Namen erinnerte sich selbst Arjen, obwohl ihm das politische Geschehen in diesen Tagen ziemlich gleichgültig gewesen war. Dieser hochrangige Nazischerge hatte die Insel nur ein einziges Mal mit seiner Anwesenheit beehrt, und dieser Besuch hatte bei den Insulanern einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Damals bemühten sich die tonangebenden Beekensieler um ein stattliches Förderpaket, mit dem die rückständige Insel im Sinne der »Blut-und-Boden«-Ideologie gefördert werden sollte. Ein Vorzeige-Projekt sollte die Insel werden, ein vor »Überfremdung« gerettetes Stück deutschen Bodens, denn hier war das ursprüngliche Leben noch greifbar. Die einzige jüdische Familie, die es nur durch das Lehramt des Vaters nach Beekensiel verschlagen hatte, hatte die Insel schon vor dem Siegeszug der NSDAP verlassen. Die Insulaner öffneten Fremden niemals die Türen, egal welcher Religion oder Herkunft

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