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Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman

Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman

Titel: Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Heitmann
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sitzen würde. Es wundert mich stets aufs Neue, dass sich überhaupt jemand traut, seine Kirche zu betreten. Als Kind bin ich immer erst drei Mal um eure Kate gelaufen, weil ich mir unbedingt sicher sein wollte, dass Thaisen Rosenboom nicht da ist. Und ich war nun wirklich kein Schisser.« Leise summend betrachtete Ruben erst das Foto von ihm selbst als Jungen, dann griff er nach Arjens Bild. »Seltsam, ich habe dich gar nicht so mollig in Erinnerung. Auf mich hast du immer eher einen behüteten Eindruck gemacht.« Während er allmählich zu seiner alten Selbstsicherheit zurückfand, nahm er einen Stift vom Nachttisch und schrieb einige Zeilen auf die Rückseite des Fotos, ehe er es Arjen reichte. »Ist doch gar nicht verkehrt, sich ein paar Notizen zu machen, das Gedächtnis spielt einem ja gern mal einen Streich.«
    »Als ob ich dich vergessen könnte«, zischte Arjen und legte das Foto ungesehen beiseite. Er war so aufgebracht, dass er seine Gefühle nicht für sich behalten konnte. »Seit du dich von Claußen hast einfangen lassen, habe ich jeden Tag an dich gedacht, verflucht. Damals habe ich es dir nicht übelgenommen, aber wenn du es noch ein Mal versaust, dann bist du für mich gestorben. Gib es zu, Ruben: Du hast dich in einer fixen Idee verrannt, und nun weigerst du dich umzukehren, selbst wenn es dir das Genick bricht. Sei vorsichtig, dann wird Ole dich in Ruhe lassen. Dafür bedarf es keiner Erpressung.«
    »Das geht leider nicht.«
    »Warum nicht?«
    Anstatt einer Erklärung schüttelte Ruben nur den Kopf. Seine ansonsten vor Leben sprühenden Augen wirkten verhangen.
    »So ist das also. Gut, dann nimm den Walfischknochen!« Fast gewaltsam zerrte sich Arjen das Lederband über den Kopf. »Vielleicht hilft er dir ja dabei, dein Leben wieder auf Kurs zu bringen.«
    Nach einem Zögern nahm Ruben den Walfischknochen. »Du glaubst also nach wie vor daran, dass dieses Stück Knochen in der Lage ist, unsere Schicksale zu beeinflussen?«
    Die Lippen vor Wut fest aufeinandergepresst, nickte Arjen.
    »Ich auch«, gestand Ruben ein. »Seltsamerweise.«
    »Wie meinst du das?«
    »Wie soll ich das schon meinen? Die Geschichte, die ich dir damals über seine Herkunft erzählt habe, war nur eine Geschichte. Oder vielmehr eine Lüge und noch nicht einmal meine eigene.«
    »Du hast mich also angelogen.« Arjen wollte die Worte verächtlich ausspucken, aber sie klangen vielmehr nach einem verängstigten Kind. Er würde es nicht verwinden, sollte sein Freund tatsächlich eine Lüge erzählt haben, bloß um ihn zu beeindrucken.
    »Ja und nein, aber dass ich damals gern ein wenig geflunkert habe, dürfte dir doch wohl kaum entgangen sein.« Behutsam wie immer zeichnete Ruben die Schnitze reien mit der Fingerspitze nach, als wären sie eine Art Blindenschrift. »Aber wie gesagt: Diese Lüge ist nicht auf mei nem Mist gewachsen, sie stammt von meinem Vater. Er hat den Walfischknochen – oder was immer dieses Stück auch sein mag – bei einem seiner Beutezüge mitgehen lassen. Die meisten Dinge landeten damals schnell beim Hehler. Er konnte es sich nie leisten, lange zu feilschen, so chronisch abgebrannt wie wir waren. Dieses eine Stück hatte jedoch meine Aufmerksamkeit gefesselt. Wir waren in einem leerstehenden Keller untergekommen, der sich dank des Herbstwetters jeden Tag mehr mit Wasser füllte. Wenn ich mich nicht täusche, war ich damals erkältet und wehleidig. Ich hatte die Nase gestrichen voll – von der Dunkelheit, der Kälte, dem Loch in meinem Magen. Am schlimmsten war meine stets aufs Neue enttäuschte Hoffnung, dass es bald besser werden würde und dass mein Vater uns endlich dorthin bringen würde, wovon er unablässig redete: in eine der großbürgerlichen Stadtvillen, in die er so gern einstieg, obwohl sie hervorragend gesichert waren, und deren Besitzer sich nicht ungestraft bestehlen ließen, sodass wir unentwegt auf der Flucht waren. Es brauche nur ein wenig Glück, dann würden wir schickes Schuhwerk tragen, heiße Schokolade vorm Kamin schlürfen und den Tag mit Nichtstun verstreichen lassen. Mein Vater wusste, wovon er sprach, so war er nämlich aufgewachsen, zumindest behauptete er das. Allerdings behauptete er viel, und ich war sein einziger Zuhörer. Als ich den Walfischknochen aus einem Säckchen voller Tand herausgepickt hatte, muss er den Ausdruck in meinen Augen bemerkt haben.
    ›Weißt du, was das ist?‹, hatte er mich gelockt. ›Ein Stück Knochen. Wahrhaftig. Und zwar von dem größten

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