Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
Augenwinkeln zu, doch anstatt sie abweisend oder verwirrt anzusehen, wartete er lediglich ab.
»In dem Sommer, in dem Ruben nach Beekensiel zurückgekehrt war, hatte er eine Liebesbeziehung zu Adele, die allem Anschein nach sehr tief ging. Sie war damals schon mit Ole Ennenhof verlobt, und Ruben suchte fieberhaft nach einem Weg, wie man diese Verlobung aus der Welt schaffen konnte. Offenbar ist ihm das nicht gelungen, dafür aber etwas anderes: Ruben hat mit Adele ein Kind gezeugt – deine Mutter.«
Genau in diesem Moment schloss Mattes die Augen, und Greta saß hilflos abwartend daneben. Sie glaubte, Schmerz über seine Züge huschen zu sehen, Trauer und Unverständnis, aber als er die Lider wieder hob, strahlten seine graublauen Augen eine unvermutete Gelassenheit aus. »Das erklärt einiges«, sagte er leise. »Es ist, als hätte ich plötzlich den richtigen Leim zur Hand, um all die Bruchstücke, aus denen das Leben meiner Großmutter, Roses und mein eigenes bestehen, zusammenzufügen: Adeles Lebensunmut, das Gefühl meiner Mutter, fehl am Platz zu sein, das sie uns entfremdet hat, und wohl auch meine Unsicherheit, wer ich eigentlich bin.«
»Du kannst stolz auf deine Herkunft sein, Ruben war ein wundervoller Mensch.«
»War er das? Und warum hat er meine Großmutter dann verlassen?«
Darauf wusste Greta leider keine Antwort. Behutsam streichelte sie Mattes durchs wirre, vom Salzwasser verklebte Haar. Dann ließ sie zu, dass er sie an sich zog, obwohl sie befürchtete, ihm dabei wehzutun – offenbar war Mattes ihre Nähe wichtiger. Sie spürte seinen Atem auf ihrer Schläfe, schwer und ein wenig abgehackt, während er seinen Gedanken nachhing. Warum auch immer Ruben nicht bei Adele geblieben war, sie beide würde das nicht mehr auseinanderbringen, erkannte Greta. Allein schon aus dem Grund, weil das Schicksal es eindeutig gut mit ihnen meinte. Warum sonst hätte es sie überhaupt nach Beekensiel verschlagen? Andererseits war vermutlich genau das der Gedanke gewesen, der auch Ruben vor sechsundsechzig Jahren gekommen war.
33
»Sind wir da?«, fragte Mattes zum wiederholten Mal.
»Ja, du kannst die Augen also ruhig wieder aufmachen.« Gretas Tonfall geriet genauso spitz, wie sie es beabsichtigt hatte. »Siehst du: Wir stehen auf dem Parkplatz hinterm Sturmwind, und zwar mit einem ausgesprochen heil gebliebenen Jeep. Ich verstehe wirklich nicht, warum du dich so aufregst.«
Anstelle einer Antwort ließ Mattes die angestaute Luft ab. »Das war abenteuerlicher als die Sturmnacht auf der Jolle.«
Greta widerstand dem Bedürfnis, Mattes einen Klaps auf den Arm zu geben, da sie befürchtete, die Schiene, mit der der Bruch fixiert war, könnte verrutschen. Die Blutergüsse in seinem Gesicht hatten sich in ein Grünblau verwandelt, und das große Pflaster oberhalb der Braue war gegen ein kleines ausgetauscht worden, das die genähte Platzwunde gerade so bedeckte. »Wenn du frech wirst, dann fahre ich dich schnurstracks zu deiner Wohnung, in der du dann in Ruhe darüber nachdenken kannst, ob es angebracht ist, sich über die Fahrkünste deiner Liebsten lustig zu machen. Und das obwohl ich nur ein oder zwei Mal ein wenig unorthodox gefahren bin.«
»Sagtest du ›ein wenig‹? Schon gut, ich halte den Mund. Außerdem ist die Fahrt ja, Gott sei Dank, vorbei. Nachher lassen wir den Jeep einfach stehen, und ich laufe nach Hause. Die frische Luft ist genau das Richtige, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen.« Mattes biss sich auf die Unterlippe. »Nach den Tagen im Krankenhaus, meine ich natürlich. Das viele Liegen, die stickigen Zimmer …«
Fado, der auf dem Rücksitz lag, gab ein zustimmendes Winseln von sich. Nachdem er bei einer Vollbremsung ins Sicherheitsnetz geflogen war, hatte er sich für den Rest der Fahrt tot gestellt, obwohl er zuvor noch ganz aus dem Häuschen gewesen war, sein Herrchen endlich wiederzuhaben. Nach dem Ausstieg gaben sie Fado die Gelegenheit, sämtliche Ecken des Sturmwind zu beschnüffeln, ehe sie das Hotel betraten.
In dem abgewetzten Salonsessel bei der Rezeption saß Wencke, die bereits zum Ausgehen angekleidet war und eine Pudelmütze auf dem Kopf trug – vermutlich das Winteraccessoire des Jahres. Gretas Schwester war mit ihrer Familie am selben Tag auf Beekensiel eingetroffen, als Mattes in der Nordener Klinik operiert worden war. Als Greta für einen Abstecher auf die Insel gekommen war, um Wechselkleidung und andere Dinge für den Patienten zu besorgen, hatte Wencke sie
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