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Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman

Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman

Titel: Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Heitmann
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entrücken, und das Meer würde eine dunkle, ungezähmte Woge sein. Der passende Hintergrund, um über das Schicksal nachzudenken.
    Wie erwartet, lag der langgezogene Nordstrand verlas sen da. Der feine Sand war von Muschelschalen und Seegut durchsetzt, und das Watt, in das er überging, war ein graues, welliges Band, das noch nicht von Schuhsohlen und Wattwürmern verziert worden war. Die Dünen schwangen sich in die Höhe, auf ihren Hängen wuchs Seegras, das sich im Wind bog und gelegentlich von einem Sanddornbusch mit seinem silbrig grünen Blattwerk unterbrochen wurde. Es war ein gewaltiger und zugleich beruhigender Anblick, der dazu einlud, immer weiterzulaufen – nicht um etwas Unerwartetes zu entdecken. Nein, die Anziehungskraft des Nordstrandes lag in seiner Beständigkeit, dem Gleichklang des Meeres und der Weite des Himmels.
    Während Greta sich vom Wind treiben ließ, kreisten ihre Gedanken um den Walfischknochen, von dem Ruben behauptet hatte, er besitze die Macht, das Schicksal zu beeinflussen. Im Gegensatz dazu klang der Rest seiner Geschichte mehr oder weniger erfunden. Greta glaubte weder, dass Rubens Vater ein bekannter Historiker gewesen war, noch dass die Nazis sich jemals eines Inuit-Relikts hatten bemächtigen wollen, das ihnen dabei helfen sollte, die Weltherrschaft an sich zu reißen. Wäre Ruben ein Kind der heutigen Zeit gewesen, hätte sie darauf getippt, dass er eindeutig zu viele Indiana - Jones -Filme gesehen hatte. Gewiss verbarg sich ein Funken Wahrheit in seiner Geschichte, aber ein Großteil entsprang sicherlich dem Bedürfnis, vor seinem Freund die Würde zu bewahren. Und wahrscheinlich auch vor sich selbst, denn offenbar litt der stolze Junge unter seiner Lage.
    Während Greta im Geist noch einmal durchging, was genau Ruben über den Walfischknochen gesagt hatte, holte sie den Zimtwecken hervor und biss hinein. Mit Hilfe des Relikts könne man sein eigenes Schicksal bestimmen. Was für eine verlockende Vorstellung. Für einen zwölfjährigen Herumtreiber genauso wie für eine junge Frau, die endlich in ihrem Leben ankommen wollte.
    Der Walfischknochen hat die Form eines Bogens, mit einem Anfangs- und einem Endpunkt – genau wie das Leben. Nur verleiht er den Geschehen, die dazwischenliegen, einen Sinn. Sie geschehen nicht zufällig, sondern reihen sich in ein größeres Ganzes ein.
    Das Bild verdichtete sich immer mehr vor Gretas innerem Auge. Und wer sagte überhaupt, dass damit nur das Schicksal eines Einzelnen gemeint war? Vielleicht spannte sich ja ein Bogen zwischen Arjens abenteuerlichem Sommer und seiner Wiederkehr nach Beekensiel gemeinsam mit ihr, sodass auch ihr Schicksal mit dieser Reise verknüpft war. Ein elektrisierender Schauder überkam Greta und brachte sie zum Stehen. Dieser Ruben war wirklich ein begnadeter Geschichtenerzähler, das musste sie ihm schon lassen. Wie war es sonst zu erklären, dass sie sich wegen eines Hirngespinsts wie dem Walfischknochen den Kopf zerbrach? Die Zukunft zu bestimmen war schlicht unmöglich, da half auch kein Walfischknochen, der mit kunstvollen Schnitzereien versehen war. Man konnte sein Leben in die Hand nehmen, aber sein eigenes Schicksal beeinflussen? Das war unmöglich. Falls es denn überhaupt so etwas wie Schicksal gab.
    Während Greta über den Walfischknochen nachdachte, entging ihr die Gestalt, die über den Strand entlang auf sie zukam. Erst als sie bis auf wenige Schritte herangekommen war, hob Greta den Blick, nur um es sogleich zu bereuen. »Sollten Sie nicht auf einem Kutter sitzen und die Meere leerfischen?«, rief sie Mattes Ennenhof zur Begrüßung zu.
    »Das hebe ich mir für morgen auf.« Die Entgegnung klang überraschend gut gelaunt.
    Mattes trug eine dunkle Mütze, die ihn vor dem Wind schützte und seine Augen hervorhob. Unwillkürlich musste Greta daran denken, wie Arjen die Augenfarbe seines Freundes beschrieben hatte: ein vom morgendlichen Dunst verschleiertes Blau. Bei Mattes fiel das Gemenge anders aus, mehr Sturmgrau mit einer Ahnung Blau, als vermute man lediglich den Himmel hinter den Wolken. Wie passend für diesen Mann.
    »Und was treibt Sie in aller Herrgottsfrühe an den Strand?«, fragte Mattes. »Laufen Sie sich die schlechte Laune aus dem Leib?«
    »Wie kommen Sie denn darauf?« Es ärgerte Greta, dass ihr Ton so scharf geriet, als gebe es Anlass zur Verteidigung.
    »Wegen des Gesichtsausdrucks, mit dem Sie durchs Watt gestampft sind. Als läge Ihnen etwas auf der Seele.«
    »Sie sind ja

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