Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
wahren. Nur ungern gab Arjen nach, denn von dem bleichen Holz ging eine unerklärliche Anziehungskraft aus. Es kribbelte in seinen Fingern, so sehr wollte er es berühren, die feinen Linien erkunden, sie auf diese Weise vielleicht verstehen lernen.
»Das Relikt ist ein mit Schnitzwerk geschmücktes Stück Holz?« Arjens eigene Worte dröhnten ihm stumpf in den Ohren, als sei nur ein Teil von ihm in der gegenwärtigen Welt, während sich ein viel bedeutenderer Teil auf die Reise gemacht hatte, dieses Mysterium zu begreifen. Auch Ruben wirkte mit einem Mal losgelöst, als würde die Magie des Reliktes auf ihn überspringen und ihn unwirklich werden lassen. Als befände er sich nicht auf dieser Insel, sondern in einer anderen Sphäre, in der man keinen Hunger und keine kalten Füße kannte.
»Das ist kein Holz, sondern ein Knochen. Das Relikt ist lange Zeit von den Eskimos im fernen Grönland beschützt worden, bevor mein Vater diese Pflicht übernahm. Es ist ein Walfischknochen, und er trägt die Macht in sich, das Schicksal zu beeinflussen. Wenn man imstande ist, seine Zeichen zu lesen, dann kann man mit ihm sein eigenes Schicksal schreiben. Dann hat man sein Leben in der Hand. Begreifst du nun, warum er nicht den falschen Menschen in die Hände fallen darf?«
12
Mit dem ersten Tageslicht eilte Greta – in Parka und Gummistiefeln, den Schal zweimal um den Hals geschlungen – durch den Eingangsbereich des Sturmwind. Die knarrenden Holzdielen riefen Trude auf den Plan, die mit den Vorbereitungen fürs Frühstücksbuffet zugange war.
»Moin! So früh schon auf den Beinen? Trinken Sie wenigstens eine Tasse Tee, bevor Sie rausgehen, draußen ist es nämlich nicht sonderlich angenehm.«
Greta lehnte dankend ab, denn sie befürchtete, aus ihrem Morgenspaziergang würde nichts mehr werden, wenn sie es sich erst einmal gemütlich gemacht hatte: Zu der Tasse Tee würde sich bestimmt ein belegtes Brötchen gesellen, und eher sie es sich versah, hätte sie sich schon in eine Unterhaltung mit Trude Hayden verstrickt. Sie hatte sich jedoch vorgenommen, die frühe Stunde dafür zu nutzen, sich einige Dinge durch den Kopf gehen zu lassen. Arjen hatte ihr gestern Abend so lange von Rubens Geheimnis erzählt, bis das Kaminfeuer niedergebrannt war und Trude sich längst verabschiedet hatte. Ihr Großvater hatte danach erschöpft, aber erleichtert ausgesehen, als wäre er froh, diese Geschichte mit jemandem geteilt zu haben. Greta war sich sicher, dass Arjen mit niemandem über den Walfischknochen gesprochen hatte – außer mit Ruben.
»Wie komme ich eigentlich zum Nordstrand?«
Trude blickte vom Gebäckkorb auf, den sie auf dem Buffet arrangierte. »O, warum laufen Sie denn nicht zum Weststrand? Der ist gleich um die Ecke und auch viel besser für einen Spaziergang geeignet, dort gibt es nämlich eine hübsche Promenade, und der Wind fährt einem nicht ganz so arg in die Knochen.«
»Der Wind stört mich nicht, aber ich möchte ein wenig für mich sein, und der Nordstrand scheint mir der richtige Ort dafür.« Die Dünen, in denen Arjen sich als Kind herumgetrieben hatte, würde sie später in seiner Gesellschaft kennenlernen – falls ihr Großvater nach dem aufregenden Vortag überhaupt aus dem Bett kam. Gestern Abend auf der Treppe, als sie zu ihren Zimmern gegangen waren, hatte er ihr trotz ihrer beharrlichen Nachfragen keine weiteren Antworten geben wollen.
Trude musterte sie zweifelnd, dann lenkte sie ein. »Verlassen Sie den Ort in Richtung Osten und halten Sie auf den Dünenkamm zu. Dann treffen Sie auf den einzigen befestigten Weg, der zum Nordstrand führt. Bitte nicht verlassen, nicht nur weil die Dünen unter Naturschutz stehen, sondern auch weil man sich leicht in ihnen verläuft. Früher oder später landet man zwar immer an der Inselkante, aber so ein Marsch ist ganz schön anstrengend. Vor allem mit leerem Magen. Hier …« Trude reichte ihr einen Zimtwecken aus dem Korb. »Und pünktlich um neun Uhr erwarte ich Sie zum Frühstück. Sollten Sie bis dahin nicht zurück sein, rufe ich den Küstenschutz an.«
Lachend ging Greta auf die Eingangstür zu, vor der ihr eine Böe das Lachen von den Lippen klaute. Es war tatsächlich frisch und diesig. Für die meisten Besucher auf Beekensiel war das Wetter vermutlich ein hervorragender Grund, um sich noch einmal in ihren Betten umzudrehen, aber Greta fand es perfekt für einen Küstenspaziergang. Der Wind würde in den Ohren tosen, der Dunstschleier die Welt
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