Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
erfüllt zu fühlen, an den Orten, an denen sie gelebt hatte, weil es nichts gegen sie zu sagen gab, außer dass sie sich nicht zugehörig fühlte. Das Problem hatte bei ihr gelegen, weil sie nicht hatte einsehen wollen, dass sich solche Entscheidungen nicht allein mit dem Kopf treffen ließen. Dass einige Entscheidungen vielleicht nicht einmal bei ihr allein lagen.
»Wäre es möglich, dass in der Geschichte über den Walfischknochen, die Ruben dir erzählt hat, ein Fünkchen Wahrheit liegt?«, fragte sie ihren Großvater unvermittelt. »Glaubst du an das Schicksal?«
Arjen antwortete nicht sofort. »Du meinst, ob unser Lebensweg eine Ansammlung von Zufällen ist oder ob er vorbestimmt ist? Ich weiß es nicht. Aber Ruben glaubte daran, dass der Walfischknochen eine Antwort auf diese Frage gab, auch wenn er keine Ahnung hatte, wie man seine Magie steuerte. Für ihn war unser Leben eine Geschichte, und hinter jedem Rückschlag lauerte eine Absicht, die wir erst im Nachhinein erkannten.«
»In deinen Erzählungen wirkt Ruben aber keineswegs wie ein schicksalsergebener Junge, sondern eher wie jemand, der den Stier bei den Hörnern packt.«
Arjen lachte gegen den Wind an. »Genau das war Ruben! Entschlossen und angriffslustig. Er war überzeugt davon, dass man nicht darauf warten durfte, dass einem der Apfel in den Schoß fällt, sondern dass man alles daransetzen musste, dass es auch wirklich passierte. Man muss sein Schicksal erfüllen, auch wenn das zunächst wie ein Widerspruch klingt.«
»Und das hat er so gesagt, ein zwölfjähriger Junge?«
Arjen deutete ihr an, ein paar Schritte zu gehen. Greta bemerkte, dass seine Schultern leicht zitterten, bestimmt fror er. Sosehr es auch der richtige Augenblick für eine Geschichte war, sie mussten sofort ins Warme.
»Gesagt hat Ruben es nicht direkt, obwohl er es bestimmt gekonnt hätte, so wortgewandt, wie er war. Aber er hat es mir auf eine Weise verständlich gemacht, die sehr viel besser funktioniert als mit Worten. Er hat es mir gezeigt. Hier. An dieser Stelle.«
Irritiert blickte Greta auf das tosende Wellenspiel, auf das Arjen deutete.
»Natürlich war es nicht so ein stürmischer Herbsttag wie heute«, sagte er mit einem Lächeln, als er ihren Gesichtsausdruck bemerkte. »Es war allerdings auch nicht gerade einer der wärmsten Tage des Sommers. Wenn ich mich recht erinnere, hatte ich durchgehend eine Gänsehaut, aber das hat mich nicht davon abgehalten, hinter Ruben herzulaufen. »An den Strand« hatte die Parole des Tages gelautet. Wir hatten am letzten Nachmittag, der von Gewittern erfüllt gewesen war, in der Stube einen Drachen aus Seidenpapier gebastelt. Ich weiß noch, wie ich unter Hochdruck stand, weil ich jeden Moment damit rechnete, dass mein Vater in der Tür stehen und mich mit herablassender Stimme fragen würde, wer dieser verlumpte Junge sei, der auf Mutters gutem Sofa säße. Ruben dagegen machte sich keinerlei Sorgen, als wisse er besser als ich, dass mein Vater nicht unvermittelt auftauchen würde, er kannte sich mit Thaisens Angewohnheiten verblüffend genau aus. Jedenfalls bauten wir unseren Drachen in Ruhe fertig und probierten ihn schon am nächsten Tag aus. Die Biegung da drüben.« Arjen wies auf eine Stelle, an der sich die Düne vor den Strand schob. »Dort ist es immer besonders windig, der perfekte Platz, um schon im August einen Drachen steigen zu lassen. ›Zu irgendwas muss so ein Unwetter schließlich gut sein‹, hat Ruben gesagt, als der Wind unseren Drachen tatsächlich in die Höhe trug. Karmesinrot war er, aus dem Seidenpapier, mit dem meine Mutter ihre Schubladen ausgelegt hatte. Und nun tanzte er wie ein Leuchtfeuer am Himmel. Kannst du dir das vorstellen?«
Greta nickte, während sie darüber erschrak, wie gut sie es sich vorstellen konnte. In ihren Ohren klang Kinderlachen, die Sonnenstrahlen brachen sich auf einem hellen Schopf, und ein dicklicher Junge lief erstaunlich leichtfüßig über den Strand, die Augen auf den tanzenden Drachen gerichtet. Ein echter Drachen, flammend rot. Es muss an diesem Gerede über das Schicksal liegen, dass sich die Vergangenheit zum Greifen nah anfühlt , suchte Greta nach einer Erklärung. Als wäre das Gestern lediglich durch eine dünne Membran von der Gegenwart abgetrennt, und es brauchte nicht mehr als einen geheimen Trick, um sie zu überwinden.
»Der Moment hätte ewig währen können«, sagte Arjen leise. »Er war perfekt.«
14
SOMMER 1939
»Höher! Los, Ruben, lass ihn
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